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Die weiblichen Figuren sind bei Keller von der Sprechposition einer männlichen Autorschaft zwar ausgeschlossen, im Ausschluss aber nicht gänzlich zum Verstummen gebracht. Angewiesen auf die Ausdrucksweise der Männer, formulieren sie sich über die Entstellung einer vorgegebenen Sprache, in der sie als andere Stimme blitzhaft aufscheinen. Mit der Ausgestaltung dieser Konstellation verfällt Keller nicht der naiven Fiktion einer authentisch weiblichen Stimme, die sich befreit von sämtlichen kulturgeschichtlichen Vorgaben artikulieren und gleichsam die Wahrheit der Frau zur Sprache bringen könnte. Seine Texte gestalten am Beispiel der weiblichen Stimme vielmehr mit äusserster Konsequenz den problematischen Ort der Frau in einer symbolischen Ordnung, die ihr den Zugang zur *Subjektposition verweigert und sie in dieser Ausgrenzung zugleich für die Aufrechterhaltung ihrer Struktur beansprucht. Die Sprache der Frau wird bei Keller damit nicht zum *utopischen Gegenbild einer anderen Rede, sondern gibt als Rede aus der Position des *Anderen Einblick in die Herrschaftsmechanismen der geltenden Ordnung.

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Ausschnitt aus:
Stimme und Schrift. *Geschlechterdifferenz und *Autorschaft beiGottfried Keller
Amrein Ursula




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Dialogische Verständigung findet in diesem Film nicht statt: jeder hört die Worte des anderen, jeder reagiert auf sie, aber nie direkt in der Dyade des Gesprächs. Mit dem Mundraub des Fahrscheins reagiert der Schwarze auf die Tiraden der Alten, diese ihrerseits reagiert darin auf die Schlagzeilen-Rufe des Zeitungsverkäufers, man lese ja ständig von der Ausländerkriminalität, die Zeitungen seien voll davon und immer so fort. Der türkische Junge stößt Verwünschungen aus gegen sie, aber niemand versteht sein Türkisch. Aus den Mienen der anderen Fahrgäste läßt sich keine Reaktion auf die Suada der Alten herauslesen, die durch Schnitt, Tonspur und Kameraführung subtil desavouiert wird: im hörbaren Kauen und Mahlen der Zähne des Schwarzen bleibt der Adressat präsent, ohne im Bild zu sein, ein dösender Fahrgast schreckt auf, als von der "Belästigung" durch die Ausländer die Rede ist, ersichtlich belästigt und im Dösen gestört durch den Wortschwall der Alten.
Ihre Stereotypen türmen sich auf und prallen aneinander: "das Boot ist voll", aber der Fremde solle sich doch woanders hinsetzen, schließlich sei genug Platz; die Immigranten nehmen uns die Arbeit weg – und sie sind arbeitsscheu; die Ausländer arbeiten 'schwarz' – und leben von unseren Steuern; wir haben alles wieder aufgebaut, nach dem Krieg und ganz allein – die "Gastarbeiter", die wir dazu ins Land holten, sind leider geblieben, statt zu verschwinden, wo sie hergekommen sind.
Subtile Desavouierung und Dekonstruktion durch Selbst-Decouvrierung: das ist die persuasive Technik des Films. Die einzig "gelingenden" Gespräche, die der beiden schwarz-weißen Paare, können wir nicht hören – sie bleiben optischer Vorschein aufs Mögliche und Richtige und eigentlich Selbstverständliche: so könnte es sein. *Utopie und Des-Illusion.
Für die Zukunft stehen die Jungen, positiv, natürlich, tolerant: Identifikationsfiguren. Rassismus – ein Problem der Alten und Ewig-Gestrigen nur? Die Botschaft des Films ist ebenso sympathisch wie zwiespältig. Sie blendet die alltägliche Realität des Rassismus der Glatzköpfe aus, die hohl klingen, wenn sie aneinander schlagen. Die Springerstiefel marschieren, Haß und Hakenkreuze werden ins Netz gestellt – nichts davon im Film. Er suggeriert: abwarten, und das Problem löst sich biologisch. Die Ordnungsmacht, repräsentiert durch den Schaffner, wird damit fertig, don't worry, die Institutionen sind gerecht, neutral und farbenblind. Nichts von Asylantenlagern, Polizeiübergriffen, Abschiebehaft, billigen Arbeitskräften aus dem Ausland und der Alltäglichkeit des Ausländerhasses in Jugendbanden. Warnung oder Entwarnung oder beides zugleich?

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Ausschnitt aus: *Migrationsdiskurs im Kurz- und Dokumentar*film Peter von Guntens They teach us how to be happy und Pepe Danquarts Schwarzfahrer
Hess-Lüttich Ernest




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Wie kann die Semantik der Alpen des ausgehenden 18. Jahrhunderts charakterisiert werden? Ich möchte auf zwei wichtige Kernelemente hinweisen: Die Basis der romantischen Sichtweise ist die traditionelle Kulturlandschaft, die mit hochalpinen Szenen kontrastiert wird. In diesem Raumentwurf werden die Landschaft und die Einheimischen idealisiert. Diese Idealisierung aus der Fremdoptik des Flachlandes basiert auf einer räumlichen und zeitlichen Trennung von Ebene und Alpen. Im mythisierten Raum der Alpen schienen sich die gesuchten Reste einer heilen, urtümlichen Welt erhalten zu haben. Durch diese Enthistorisierung des Berggebietes vom Flachland wird die positive Qualität der Alpen begründet. Die alpine Natur und Gesellschaft wird zum Projektionsraum für die Kritik an den als dekadent erlebten Zuständen an Fürstenhöfen und in Städten. Albrecht von Haller (1708-1777) hat mit seinem Gedicht "Die Alpen" diese Sichtweise wesentlich beeinflusst.
Im 19. Jahrhundert führte die Industrialisierung und* touristische Erschliessung der Alpen zu einer Verschiebung in der semantischen Kodierung. Der *utopische Gehalt, insbesondere in der Gesellschaftskomponente, schwächte sich zu einer idyllischen Bergwelt ab. Alltagsentlastung und Heilung wurden gegenüber dem 18. Jahrhundert verstärkt betont: "Nach wie vor werden alljährlich die ungezählten Tausende zu ihr [der Alpenwelt] emporpilgern wie zu einer Heilstätte und sich dort die Arznei holen für das, was das moderne Leben an ihnen verbrochen hat und verbrechen wird" (Noë 1887: 696). Diese Funktionalisierung akzentuiert für das Berggebiet das *Diskursmuster Natur-Freizeit-Erholung.

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Ausschnitt aus: Von der Bergeslust und anderen Selbstverständlichkeiten kulturtopographischer Räume.

Stremlow Matthias





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Also, mit Sue: "Hélas, c’ est une utopie, mais supposez qu’ une societé soit organisé de telle sorte…”
Womit haben wir es bei dieser Behebung einer grundlegenden Asymmetrie zu tun? Marx benennt das Problem folgendermassen: "Wenn die Gesellschaft nicht alle Guten belohnt, so ist dies unumgänglich nötig, damit die göttliche Gerechtigkeit doch irgend etwas vor der menschlichen habe.”
Mit anderen Worten: Wo sich die Repräsentation der selbstrtransparenten Fülle der Gesellschaft der Partikularität des Elementes vollständig entledigt, das sie ‘inkarniert’, würden der inkarnierte ‘objektive Sinn’ und das inkarnierende Element seiner Artikulation in eins fallen. Die Abwesenheit einer Verzerrung in der Artikulation zwischen beiden würde zur Auflösung des ‘objektiven Sinns’ führen. Ohne diese minimale Trübheit – ein Zustand, der gemeinhin mit einer neutralen, politikfreien Verwaltungspraxis oder social engineering verbunden wird – würde sich aber auch das Universum der artikulierten Bedeutung auflösen – die ‘vollste’ aller Gesellschaften wäre dann auch gleichzeitig die ‘leerste’.
Wie können wir dann den Status dieser Tabelle bestimmen? Sie ist die materialisierte, buchstäblich gewordene Trübheit des Verhältnisses, das sie beschreibt: die phantasmatische Plombe, die den Riss in der Äquivalenzkette der Artikulationen des Sozialen schliesst – dahinter nichts. Wir dürfen ihr uns nur unter der Bedingung des Glaubens nähern ("Supposez qu’ une societe soit organisé de telle sorte…”), während sie gleichzeitig in einem Jenseits verortet ist ("Helas, c’est une utopie…”)

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Ausschnitt aus: Artikulation im hybriden *Raum

Freitag Jan





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Je mehr man eine öffentliche Person wird, desto mehr wird das Durchhangeln von einer Problemlösung zur andern die gewöhnliche Form der Fortbewegung. Wie viele hat man "gestern noch auf stolzen Rossen" mit *Utopie und *Aufklärung auf dem Panier gesehen, die heute voll beschäftigt sind, für ihre Kompromisse nachträgliche Begründungen zu suchen. Ihr Hass gegen die Grundsätzlichen ist vorhersagbar: Er ist nichts anderes als das verwandelte schlechte Gewissen angesichts der eigenen Verwandlung zur Unkenntlichkeit. C. G. Jochmann, ein heute völlig vergessener Autor, hat darüber vor fast 200 Jahren das Nötige gesagt. Bei ihm, in seinem Essay über Die öffentliche Vernunft, kann man nachlesen und erfahren, dass dieser Zusammenhang schon zur Zeit der Französischen Revolution beobachtbar war. Man nannte damals "die bessern Köpfe, wenn sie mit ihren Grundsätzen nicht kapitulieren liessen, Principiers — Napoleon, der noch an der Spitze von 500,000 Mann gern den Satyriker machte, nannte sie Idéologues."

MB ist ein "Principier", ein "Idéologue". Das gibt ihm zuweilen Donquichottehafte Züge. Denen, die darin ein schlagendes Gegenargument erblicken, sei unter die Nase gerieben, was Henry James in The Turn of the Screw behauptet: Auch "jede Diplomatie hat ihre naive Seite."

Meine Hochachtung und meine Glückwünsche gelten MB. Möge er Kraft haben für die "fast unlösbare Aufgabe ..., weder von der Macht der anderen, noch von der eignen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen".

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Ausschnitt aus:
SODALI SODALIS!
Stadler Ulrich




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Und doch bricht Walser auf. Bleiben ist für ihn Ruhelosigkeit, Aufbrechen ist Ruhe. Walsers idealer *Raum ist also vielleicht der Zwischenraum zwischen der Schweiz und Berlin. In seinem gesamten Werk sind immer wieder Stellen von kompletter Imersion in einen Zustand, z.B. das Dienersein, beschrieben, die nichts desto trotz noch die Distanz eines reflektierenden Voyeurs haben können. Situationen, durch Unterdrückung gekennzeichnet, sind voll von Freiheit, da die Situation frei gewählt und man vor allem auch wieder aus ihr ausbrechen kann. Darin liegt die Freiheit, die Walser immer wieder *utopisch behandelt. Auch nach Berlin war er aus einer "festen Lebensstellung" (u.a. jener als Bankangestellter in Zürich) ausgebrochen.
Walser kehrt 1913, nach sieben Jahren in die Schweiz zurück. Weil es die Umstände so wollen (seine Gönnerin stirbt). Doch nur deshalb? Wäre es nicht auch möglich, dass er genau wieder die Freiheit in einem absoluten Zustand sucht, wie jenem des Fremdseins...?
Und als er zurückkehrt, ist die Schweiz ihm fremd, vermutlich noch fremder als zuvor.
"Alles, alles ist fremd." (Stadt I)
Das erstaunt ihn wohl kaum, und als beängstigend empfindet er es wohl noch weniger, eher als grosser Gewinn:

"Es lebe also die Fremdheit und nicht die Be*Freundschaftfreundetheit, die Unbekanntheit, nicht das Einander-längst-bekannt-Vorkommen."(Bleistiftgebiete III, 71)

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Ausschnitt aus: *Robert Walser zwischen der Schweiz und *Berlin
Schibli Barbara




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Aber soll es ausser weiblichen Leichen als Auslöser für Kunst und dem Schwanengesang einer abdankenden männlichen Klasse, wirklich keine anderen *Bilder geben, mit denen wir den Zusammenbruch der Vormachtstellung des weissen bürgerlichen Mannes ästhetisch erörtern könnten. Bleiben uns wirklich nur Geschichten der Resignation, des Wahnsinns oder der Selbsttilgung? Oskar Negt hat einmal den Vorschlag gemacht: Den *Utopieverboten entsprechen die falschen Realitätsdefinitionen. Das scheint zumindest Woody Allen sich zu Herzen genommen zu haben. Denn das Unglück seines Alteregos wirkt gerade dadurch so brisant, daß parallel zu seinem Absturz gleichzeitig der Aufstieg der von ihm betrogenen Frau gefeiert wird. Judy Davis, die wie in Husbands and Wives eine verklemmte Stadtneurotikerin spielt, verwandelt sich im Verlauf der Handlung von einer schlampigen Schullehrerin in einen strahlenden, erfolgreichen Fernsehstar. Auf die ironische Wandlung, die ihr Leben eingenommen hat hinweisend erklärt Robin dem erstaunten Lee, sie sei sich völlig bewußt, daß sie sich in genau jene Art Frau verwandelt hat, die sie früher immer gehasst hat. Aber sie sei tatsächlich glücklicher. Gerade weil sie nur zu gut weiß, daß ihr plötzliches Glück zufällig ist, kann sie auch so lustvoll mit ihrer neuen Identität spielen.
Daß Woody Allen gerade seiner Heldin die zukunftträchtigere Definition von Realität in den Mund legt ist kein Zufall. Seit Lacan wissen wir: Die Frau gibt es nicht. Interessant an diesem Gemeinplatz ist nun weniger der Umstand, daß die Frau in unserer Kultur vom männlichen Blick geschaffen wird. Vielmehr, sie wurde nie als universales *Subjekt verstanden und konnte deshalb die kulturellen Gesetze, denen unsere Identitätskonzepte entspringen, als Illusion begreifen: als symbolische Fiktionen, die zwar notwendig aber nicht allumfassend und ausschließlich sind, und mit deren Regeln man demzufolge am besten spielerisch umgehen sollte. Der Vormarsch der Frauen, der seit Anbruch der *Moderne unsere Öffentlichkeit nachhaltig geprägt hat, zwingt uns am Ende des Jahrtausends angelangt einzusehen: Auch den Mann als universales Subjekt gibt es nicht. Und was dieser, nun endlich auch genötigt, die ihm zugewiesene gesellschaftliche Identität als Rollenspiel anzuerkennen, von denjenigen lernen kann, die die Illusion ihrer gesellschaftlichen Definition immer schon als solche aufrechterhalten haben, sind die Möglichkeiten, die sich aus dem *Spiel der Illusion ergeben.
So fallen einem bei der *Hollywoodproduktion der 90er Jahre immer wieder Heldinnen auf, deren Funktion darin besteht, die ihnen vorgeschriebene Position innerhalb ihrer Gemeinschaft auszuhandeln, und dabei entweder eine Gegenstimme zum Abgesang einer sinnentleerten *Männlichkeit oder eine ironische Distanz zur Verblendung ihrer Gegenspieler einzunehmen. Wes Craven wählt in seiner dunklen slasher-Komodie *Scream ganz bewußt teenager und college-Studenten als Protagonisten. Als *Jugendliche einer randständigen Klasse zugehörend können sie es sich noch erlauben, verdrängte und verbotene Verhaltensweisen auszukosten. Doch es ist seine von Neve Campbell gespielte Heldin, die jene Umschrift der Realitätsdefinition unternimmt, die ein Prinzip Hoffnung erlaubt. Mit der Tatsache konfrontiert, daß sie ihrer Vergangenheit nicht entkommen kann, schafft sie sich dennoch innerhalb der vorgegebenen Parameter die Freiheit, den Ausgang ihrer Geschichte selbst zu entscheiden. Während ihr *Geliebter, der sich als Mörder ihrer Mutter entpuppt, sie tödlich mit seiner Waffe bedroht, und ihr das von ihm ausgedachte Mordszenario erklärt, antwortet sie: ‘not in my script!’ Sie erkennt zwar, daß sie das Genre der Geschichte, die sie durchspielen muß, nicht ändern kann. Aus dem Horrorszenario kann keine seichte Liebeskomödie werden. Doch weil sie die ihr aufgezwungene Situation auch als script begreift, kann sie ihre Rolle in ihrem Interesse umgestalten. Wes Craven läßt sie ihren Widersacher erschießen und zeigt uns damit einen Ausweg aus einer selbstgefälligen Hilflosigkeit. Die von ihm angebotene *utopische Denkfigur lautet: die Realität wird von den Charakteren selbst postuliert. Als notwendiges gesellschaftliches script kann sie immer auch neu ausgehandelt werden.

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Ausschnitt aus: Eurydikes starke Schwestern. Gedanken zur Krise der *Männlichkeit im *Hollywood *Kino der 90ger Jahre
Bronfen Elisabeth





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