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Der Federstrich, aus dessen erstarrter Spur sich die Einzelzeichnung erbaut, kann so gleichsam die Zeitdimension, die ihm von seiner Entstehung her noch inhärent ist, ausleben und von Feld zu Feld, von Blatt zu Blatt ein zeitliches Kontinuum erschaffen, in dem *Raum und Zeit, die Les-sing als die Hoheitsgebiete von zwei ungleichen Künsten noch streng getrennt wissen wollte, gleichermassen und im Zusammenspiel zu ihrem Recht kommen. Die Herkunft aus den illustrier-ten Berichten, in denen die von Töpffer als Erzieher mit seinen Zöglingen unternom-menen Ausflüge dokumentiert wurden, ist den Bildergeschichten so noch anzumerken.
Wenn man in der Darstellung von Monsieur Pencils Landschaftsmaleridylle einen Reflex auf den angeblich durch ein Augenleiden erzwungenen Abfall Rodolphe Töpffers von der Landschaftsmalerei sehen will, so fällt auf, dass darin jedes Pathos fehlt. Dieser wird – anders als im Grünen Heinrich der Abfall Kellers von der Malerei – in eine Fiktion hinübergespiegelt, der die-sem Vorgang nichts Gravierendes anhaften lässt. Die Art, wie Pencil sein Künstlertum verkör-pert, sorgt dafür, dass keine Trauer über den Verlust aufkommt. Das Zufällige des Vorgangs verunmöglicht aber ebenso, dass der Abbruch der Arbeit zum Akt der Weisheit emporstilisiert wird. Was mit dem Emporfliegen von Pencils Zeichnung beginnt, ist eine Abfolge von immer unglaublichereren Vor- und Zufällen, in welche mehr und mehr Personen verwickelt werden, bis schliesslich auch das Telegrafennetz verrückt zu spielen beginnt und die buchstäblich aus der Luft gegriffene Nachricht von einer herannahenden Choleraepidemie in Umlauf setzt. Es gibt keine Verschnaufpause und keine Zäsur – Zephir bläst unermüdlich fort. Damit erweist sich die Zeit zum Hauptakteur des Geschehens. Sie verläuft linear, bis das Album gefüllt ist, die Hand-lung wieder in sich zusammenfällt und auf der letzten Seite konstatiert werden kann: "[...] et les affaires de l'Europe se tranquillisent."(S. 72) Die Figuren, die in den Strudel des Geschehens gezogen werden, wissen nicht, was ihnen geschieht. Aus der Unan-gemessenheit und Hilflosigkeit ihrer Reaktionen bezieht die Bildergeschichte ihre Komik. Was den Figuren widerfährt, ist ihnen genau so äusserlich wie Monsieur Pencil der Wind, und so liegt es ihnen auch fern, es als Erfahrung abzubuchen. Sie lernen nichts dazu, verharren in ihren Ticks, welche ihnen anhaften wie ihre unveränderliche Physiognomie. Dabei wird erahnbar, dass das unerbittliche Fortschreiten der Zeit, dessen freundliches Puttengesicht rasch ver-ges-sen ist, offenbar zum Signalement der modernen Zeit gehört.

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Ausschnitt aus: "die sorglos in Holzschuhen tanzende *Muse"
Das Bild des Künstlers und das Genre der *Bildergeschichte: Rodolphe Töpffers Monsieur Pencil und Wilhelm Buschs Maler Klecksel

*Müller Dominik




Innenraum


*trans/am




Ein politischer Mensch und Kunstliebhaber, der die Widersprüche von seinem Denken nicht fernhalten kann, die zwischen Kunst und Politik sich auftun, findet in Heinrich Heines Worten über Wolfgang Goethe ein Echo seiner Gefühle und einen Kommentar seiner Erfahrungen. Die Worte, an die zu denken wäre, sind über die Schriften des Jüngeren verstreut und haben im Hin und Her der Schreib-Standorte die unterschiedlichsten Farben und Töne angenommen. Im Kern sind sie eines Sinnes: hervorgegangen aus jenen Widersprüchen und beglaubigt von den Schwankungen, denen das ehrliche Schreiben eines "in jeder Hinsicht politischen Schriftstellers", als der Heine sich verstand, ausgesetzt ist. Er war auch und gerade dann der politische, radikale Schriftsteller, wenn er über Goethes Kunst schrieb und darüber vergessen konnte, wie er ihn zu zausen beliebte, wenn einer seiner kleinlichen, kalten, klassenspezifischen Egoismen oder dummen Rückschrittsgedanken zu besprechen war. Diese Seite Goethes 'politisch' hochzuhängen und abgelöst von seiner königlichen poetischen Erscheinung ideologisch zu fixieren, überließ Heine im großen und ganzen den Gesinnungsliteraten der Zeit, zu denen er bis zur Verachtung Distanz hielt. Seine Nöte mit jenen Widesprüchen gingen zu tief und weit, als daß er sie von Parolen der Zeit, denen die Begeisterungsquellen der Künstler fremde Wasser waren, hätte aufsaugen lassen können. Seine Nöte waren die eines Revolutionärs mit einem entsetzlich guten Gedächtnis, das seiner unermeßlichen Begeisterungsfähigkeit, die ihn auf alle Tanzböden revolutionärer Philosophie und Politik hinaustrieb, im Wege war. Es war aber seine elementare Voraussetzung dafür, radikaler Künstler zu sein und darin auch Goethe noch zu übertreffen. Denn dieses Gedächtnis, überfüllt mit den Daten der "Leidensgeschichte der Menschheit", hielt fest an den Ideen der Revolution und wußte daher zur rechten Glaubens-Stunde, daß der mißtönende Tageslärm der Weltgeschichte vergessen sein mußte, um jetzt der Kunst, die auf die Vergangenheit hört und mit ihr nie "tatsächlich gebrochen hat", *Raum und Geltung zu verschaffen. Hier und jetzt dann herrscht allein das poetische Genie wie Goethe es für seine Zeit verkörpert. Über seiner Zeit steht, der diese Herrschaft anerkennt als Künster und Revolutionär. So sieht sich Heine, so kann er dem Olympier huldigen, ohne den Geheimen Rat zu hudeln: "in der Unparteilichkeit Goethescher Künstlerweise auferzogen." Diese Haltung, aus der die folgende kleine Blütenlese stammt und zu verstehen ist, mußte lebenslang vom Autor gegen die politischen Kleingeister der Zeit abgesichert werden. Es standen ihm dafür in der Regel (im übrigen das reichlich ergriffene Mittel des Duells) nur Worte zur Verfügung. Sie sind trockene Prosa und stechen ab gegen die Poesie der Goethe-Huldigungen. "Nicht selten verkennt man die Unparteilichkeit des Dichters so weit, daß man ihn antirevolutionärer Gesinnungen beschuldigt."

[...]

Ausschnitt aus:
"DIE LETZTEN TÖNE DER MARSEILLAISE MÜSSEN VERHALLEN"
Ein kleines Geburtstagsgebinde für Michael *Böhler aus melancholisch getrockneten Heine-Blumen um *Goethes Jupiterhaupt
*Briegleb Klaus




Der folgende, kurze Abriss soll ein Versuch sein, die 521-seitige Monographie von Gilles Deleuze und Felix Guattari, den Anti-Ödipus zu skizzieren und dabei den psychoanalytischen Boden unter den Füssen der Literaturwissenschaft wenigstens ins Wanken zu bringen, wenn nicht gar wegzuziehen. Von einer vollständigen Darstellung kann auf diesem begrenzten *Raum natürlich nicht die Rede sein; daher folge ich in meinen Ausführungen dem Ratschlag von Deleuze/Guattari den sie den Lesern in ihrem Buch‚Rhizom‘ geben:
"Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. In einem Buch gibt es
nichts zu verstehen, aber viel, womit man etwas anfangen kann." (Rhizom, S. 40)
In der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, auch der literaturwissenschaftlichen, taucht eine Frage immer wieder auf: Wie man denn nun Ödipus hat, wie man zu Ödipus kommt. Zuvor beziehungsweise gleichzeitig muss überhaupt geklärt werden, was Ödipus ist. Hierzu, zur Lösung dieser Fragestellung ist die Konzeption einer neuen Psychoanalyse der Schizoanalyse, wie Deleuze/Guattari sie in Gegensatz oder vielmehr Ergänzung zur Freud’schen Psychoanalyse anbieten, zu sehen. Der Hauptunterschied zwischen den beiden – wenn ich es richtig verstanden habe – ist, dass die Schizoanalyse nach dem Modus der Produktion funktioniert, die Psychoanalyse aber nach dem Modus der Repräsentation. Man merkt also: die Psychoanalyse ist sekundär: Repräsentation ist gegenüber Produktion nachgestellt.

[...]

Ausschnitt aus:
Der Stengel eines Rhizoms
Patorski Gregor




Im September 1786, vor 214 Jahren, brach der 37jährige Johann Wolfgang *Goethe bekanntlich zu einer längeren *Reise auf, um sich für eineinhalb Jahre den Weimarer Verpflichtungen zu entziehen. Sein Weg führte ihn von Karlsbad über München, den Brenner, Trient und den Gardasee nach Verona, das in gewisser Weise als erste Station seiner Italienreise gelten kann. Denn hier war er in jenem Land angekommen, mit dem er die Verheißung seiner Reise verband: die Tradition der standesüblichen Bildungsreise sollte durch ihn umgewandelt werden in das Projekt einer vollkommenen Erneuerung der eigenen Person, die er als eine Art rite de passage der Lebensreise in Szene setzte. Insofern ist die Landschaft Italiens in der "Italienischen Reise" immer schon als eine Topographie zu verstehen, denn die Reise als Bewegung durch fremde Orte ist darin mit der allegorischen Bedeutung der Lebensreise - als lebensgeschichtlicher (Um-) Weg der Reifung - symbolisch überblendet. Dabei war das Ziel der Reise weniger das zeitgenössische Italien als vielmehr der* imaginäre *Raum jener Antike, dessen Bild dem *Studium der Winkelmannschen Schriften entsprungen war. Mit der Geographie Italiens betrat Goethe also einen Bildraum, der den Namen der Antike trug und in dem er sich eine sinnliche Begegnung mit deren Kultur in naturam versprach. Bedeutete die Reise in das fremde Land ihm somit eher eine Reise in die vergangene Zeit, so war der damit betretene Bildraum doch längst mit *Bildern besetzt, die der Lektüre von Schriften, die der Bibliothek, dem Archiv und dem Museum entstammten.
Das Programm der Wiedergeburt, das die Darstellung der "Italienischen Reise" dominiert, kann dabei betrachtet werden als eine *Subjektivierung und Individualisierung des von Winkelmann in seinen "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" (1755) formulierten Bildungsziels, sich auf dem Wege der Nachahmung der Griechen als‚Original‘ zu schaffen: "Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten." Rom bildet für dieses Unterfangen nicht nur Vorbild und Vorlage, es stellt zugleich die historische und topographische Mitte zwischen der griechischen Antike und der sächsischen Gegenwart dar, - in der Goethe gegenüber dem Modell seines Vorläufers lediglich Weimar gegen Dresden eingetauscht hat. Hatte Winkelmann noch stolz verkündet, "und Dresden wird nunmehro Athen für die Künstler", so wird Goethe, von der Römischen Reise zurückgekehrt, nicht nur Weimar zum deutschen Kunst- und Museumszentrum auszubauen suchen, sondern diesen Ort auch als Eingangshalle in die Kunst des Altertums bezeichnen und inszenieren, was er symbolisch im Titel der 1798 gegründeten Kunstzeitschrift "Propyläen" zum Ausdruck bringt.

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Ausschnitt aus:
Ortstermin an einem Gedächtnisschauplatz: *Goethe und Heine in Verona
Weigel Sigrid




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