Es murmelt der Diskurs...



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Auch wenn Marie Salanders Stimme gegenüber dem männlichen Text ausgezeichnet erscheint und das Telegramm zum Schluss ihre Unterschrift trägt, so darf dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Frau gebunden an eine von ihrem Mann vorstrukturierte Sprache äussert. Von ihm stammen die sinn- und bedeutungstragenden Worte, während sie nichts als die »verbindenden Kleinwörter« hinschreibt. Wie »Baumwolle« wickelt sich ihre Sprache um die Schrift des Mannes, die dadurch in ihrer Härte gemildert wird. Mit ihren »Stilkünsten« verwandelt sie Schriftlichlichkeit in Mündlichkeit und bringt damit jene emotionale Qualität zurück, die der lakonische »Blitzbrief« des Mannes in seiner auf Sparsamkeit und Effizienz ausgerichteten Ökonomie verloren hat.
Im Verhältnis von weiblicher Stimme und männlichem Text bezieht sich das Telegramm der Salanders sehr genau auf die im *Aufklärungsdiskurs des 18. Jahrhunderts festgelegte *Geschlechterdifferenz, die das Weibliche über die Natur, das Männliche über die Vernunft definiert. Weiblichkeit steht in dieser Konstellation für das Andere einer vernunftorientierten Ordnung und damit für das, was der Mann in einem an Fortschritt und Rationalität orientierten Prozess verloren hat. Indem Weiblichkeit zur Verkörperung dessen wird, was vom Zivilisationsprozess entweder nicht erfasst oder unterdrückt wurde, erscheint die Artikulation des Verdrängten und Verlorenen folgerichtig an eine weibliche Stimme gebunden, die innerhalb der herrschenden Ordnung sowohl im Effekt der Bereicherung als auch im Effekt der Zerstörung aufscheinen kann.

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Ausschnitt aus: Stimme und Schrift. *Geschlechterdifferenz und *Autorschaft bei Gottfried Keller
Ursula Amrein




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Weil die Grenzen spezifischer Identitäten heute ständig durch Globalisierungsprozesse durchbrochen werden, ist deren soziale Reproduktion heute ein ‘Chiasmus’: sie ist das Resultat einer Überkreuzung der gegensätzlichen Logiken von Kontextualisierung und Dekontextualisierung. Wie Ernesto Laclau es gesagt hat: "Wenn die Krise stabiler universeller Werte den Weg für eine immer grössere soziale Diversifikation ebnet (Kontextualisierung), dann wird auch die Dekontextualisierung immer wichtiger.”
Dieser Chiasmus stellt ‘Ideologie’ in ihrer reinsten Form dar: Ein, wenn man so will, De-Kontext strukturiert einen Kontext um, er arretiert dessen *diskursive Bewegung, um ein unmögliches Objekt – die gesellschaftliche Fülle – zu repräsentieren.

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Ausschnitt aus: Artikulation im hybriden *Raum
Freitag Jan




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*Robert Walser war in Berlin ein Immigrant auf Zeit. Mehrmals hielt er sich in der Stadt auf, manchmal nur sehr kurz, auch einmal über Jahre. Doch seine Kontakte zu Berlin, waren durch ein "In-die-Fremde-aufbrechen" und ein "Nach-Hause-kehren" gekennzeichnet. Ihn jedoch als* Tourist zu bezeichnen, liegt mir fern, zu fest scheint er sich auf das Leben am jeweiligen Aufenthaltsort eingelassen zu haben. Spannend ist, wie sich im Folgenden zeigen wird, dass bei Walser das Zuhause und die Fremde nicht ortsgebunden sind, so auch im Falle der Schweiz und Berlin. Dies mag eine umso stärkere Auseinandersetzung mit dem Fremden und dem Eigenen mit sich gebracht haben.
Für die Zuwanderer aus der Schweiz stellt Berlin nicht nur eine Auslanderfahrung dar, sondern vor allem die Konfrontation mit dem *Metropolendiskurs, den sie nur in der Fremde machen können. Die beiden grossen Schweizer Städte Zürich und Genf stehen nur bedingt im Mittelpunkt des politischen Weltgeschehens, es sind keine wirklichen Indurstrie- und Massenkulturzentren, und sie sind vielleicht einfach schlichtweg zu klein, als dass man auch nur eine von ihnen als "Weltstadt", wie Walser Berlin bezeichnet, wahrnehmen könnte.
Berlin ist die Welt, wer in Berlin besteht, besteht überall.
"Eine Stadt wie Berlin ist ein ungezogener, frecher, intelligenter Bengel, bejahend, was ihm so passt, und wegwerfend, wessen er überdrüssig geworden." (Berlin und der Künstler, 1910)
Berlin entscheidet also über Gedeih und Verderb ihrer Künstler. Berlin ist Herausforderung, Messlatte. Diese Vorstellung, die in vielen Köpfen der kulturell tätigen Ankömmlinge geherrscht haben mag, beschränkte sich aber gerade bei Robert Walser nicht nur auf den beruflichen Erfolg, sondern sie stellte ein alles umfassender Lebenskampf dar.


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Ausschnitt aus: *Robert Walser zwischen der Schweiz und *Berlin
Schibli Barbara




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Das war aber nicht Alles: Im Unterschied zu mir, der ich die ersten elf Jahre meines Lebens in der Stadt verbracht und ein Städter geblieben war, hatte Michael, obwohl kein Bauernsohn, die Naturwüchsigkeit eines Landjungen entwickelt. Sein erster Spitzname im Gymnasium lautete nicht von ungefähr «Hörbock» (mit einem offenen «ö»), was nicht nur der Sache, sondern auch ihrer Bezeichnung zuzuschreiben war, hatte Michael uns doch darüber ins Bild gesetzt, dass in seinem Dorf ein Gockel seiner Tätigkeit wegen so benannt werde. Nun gesellte sich also zu dieser Naturwüchsigkeit des rothaarigen Strubbelkopfes auch noch die Flöte. So wurde Michael zum perfekten Faun, und mit der grössten Selbstverständlichkeit verzog er sich in den Wald mit den Mädchen, denen ich, mich vor Sehnsucht verzehrend, aber die entsublimierte Regression, wie man es heute wohl nennen würde, verabscheuend, Gedichte schrieb. In Wahrheit war ich vermutlich einfach feige, nannte es aber Ritterlichkeit, Ernst und Verantwortung, wie mir viel später dämmerte.

Doch solche Irritationen konnten unserer Freundschaft letztlich nichts anhaben, denn sie lebte vom rationalen *Diskurs. Es kam vor, dass wir nicht nur die Schul-, sondern auch Ferientage miteinander verbrachten, und deren Höhepunkt – jedenfalls in meiner *Erinnerung – waren die endlosen Nächte, die wir, begleitet von einem guten Tropfen, damit verbrachten, Themen so lange zu diskutieren, bis wir uns entweder gefunden oder herausgefunden hatten, weshalb wir uns nicht finden konnten. Bis heute ist mein Denken und Tun von dem Glauben geprägt, Verständigung sei letzten Endes immer erreichbar, wenn man sich die nötige Zeit nehme und bereit sei, auf den Gesprächspartner einzugehen – ein allzu oft tragische Folgen zeitigendes Beispiel für Palmströms Moral, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf, denn längst habe ich die kognitive Einsicht in die grundsätzliche Unmöglichkeit der Verständigung gewonnen.

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Ausschnitt aus:
Autobiographische Notizen zu Michael *Böhler
Christian Lutz





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