Artikulation im hybriden *Raum
Jan Freitag
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Auch lasse ich gerne und ohne alle Zudringlichkeit einem jeden seine Meinung, auch wenn sie der meinigen e diametro entgegensteht. Nur mit denjenigen komme ich nicht zurecht, die gar keine Meinung, sondern nur Gelüste haben, aber diese Gelüste zu ihrem Dienst in Meinungen umwandeln und dann diese uns anderen so zudringlich und auf eine Weise auftischen, als ob wir sie schuldigerweise annehmen müssten.
Pestalozzi, An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Vaterlandes
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Weil die Grenzen spezifischer Identitäten heute ständig durch Globalisierungsprozesse durchbrochen werden, ist deren soziale Reproduktion heute ein Chiasmus: sie ist das Resultat einer Überkreuzung der gegensätzlichen Logiken von Kontextualisierung und Dekontextualisierung. Wie Ernesto Laclau es gesagt hat: "Wenn die Krise stabiler universeller Werte den Weg für eine immer grössere soziale Diversifikation ebnet (Kontextualisierung), dann wird auch die Dekontextualisierung immer wichtiger.
Dieser Chiasmus stellt Ideologie in ihrer reinsten Form dar: Ein, wenn man so will, De-Kontext strukturiert einen Kontext um, er arretiert dessen *diskursive Bewegung, um ein unmögliches Objekt die gesellschaftliche Fülle zu repräsentieren.
Was liegt näher, als diese schematischen Ausführungen zu den Mechanismen der Artikulation im hybriden *Raum mit einer der Lieblings-Dekontextualisierungen der schweizerischen Stadtbevölkerung beginnen: mit einer Wanderung in den Bergen.
Im März dieses Jahres wurde vom Nationalrat eine Verfassungsänderung mit folgendem Wortlaut verabschiedet:
[Artikel 50]: "Der Bund beachtet bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden . Er nimmt dabei Rücksicht auf die besondere Situation der Städte und der Agglomerationen sowie der Berggebiete. Das ist nicht nur interessant, weil es automatisch die Frage aufwirft, was da noch übrigbleibt welcher Fleck in der kleinen Schweiz, der weder Berggebiet noch Stadt ist, ist im Zweifelsfall nicht Agglomeration?
(Die politischen Kommentatoren der Romandie haben beispielsweise nach jeder verlorenen bundesweiten Volksabstimmung die Angewohnheit, die Restschweiz als Agglomeration von Zürich zu bezeichnen.) Diese Verbriefung einer geänderten Selbstwahrnehmung der sozialen Organisation produzierte auch eine Reihe ideologischer Effekte. So schrieb der Tagesanzeiger, die grösste Tageszeitung der Schweiz, beispielsweise:
"Die Schweiz ist kein *Heidiland. 70 Prozent der Bevölkerung wohnt in Kernstädten und Agglomerationen, allein im Grossraum Zürich leben eine Million Menschen. In der Bundesverfassung, die eine Schweiz von 1874 abbildet, ist diese verstädterte, urbane Schweiz bis jetzt nicht präsent. Die Städte sind mit keinem Wort erwähnt, ein blinder Fleck in der Bundespolitik, wie Joseph Estermann, der Stadtpräsident von Zürich, sagt. Heute seien es vorwiegend ländliche Muster, die in Bern zählten, der urbane Raum werde allenfalls als Problem, aber nicht als eigener Wert wahrgenommen. Die Schweiz sei doch kein Land von Berglern, so Estermann. Wir sind nicht mehr alle Geissenpeter.
Man ist versucht, dem ein emphatisches Ja, aber dennoch
entgegenzuhalten. Unsere Situation mag nicht die von Geissenpeter sein, aber umsomehr die von Heidi in der Grosstadt Frankfurt Im hybriden Raum der urbanen Schweiz kehren permanent nostalgische *Bilder wieder, wir werden verfolgt vom phantasmatischen Kern der nationalen Identifizierung, die sich im Reduit der Bergwelt zusammenzieht.
Die Schweiz ist
*Schokolade
Beispielsweise ging ein Aufschrei des Entsetzens durch die Medien, als bekannt wurde, dass mitten im *Gotthardmassiv bei Probebohrungen eine seltsame geologische Deformation entdeckt worden war: die Prioramulde bedrohte ein Tunnelprojekt und damit die politische Integration der Schweiz in Europa. Das steinerne Herz der Nation hatte einen Kern aus einer zuckerförmigen Substanz preisgegeben, und diese klebrige Masse drohte das fragile symbolische Netzwerk der Politik zu überfluten. Mehr noch aber als ihre Integration war auf der phantasmatischen Ebene die Integrität der Nation selbst in Gefahr. Wie bei einem schlechten *Witz, den sich ein bösartiger Gott auf unsere Kosten erlaubt hatte, mussten wir mitansehen, wie sich vor unseren Augen auf naïve und direkte Weise der Gemeinplatz par excellence materialisierte. Das, was in der Schweiz mehr ist als sie selbst, jenes unbekannte X, das aus ihr mehr macht als eine kontingente Ansammlung partikularer Elemente (Schokolade und Uhren), entpuppte sich gerade als zuckerförmige Substanz, als inerte Masse eines stumpfsinnigen Geniessens (Schokolade).
Die Substanz ist
das *Subjekt
Was uns diese Episode lehrt, ist die harte hegelianische Lektion der spekulativen Identität von Substanz und Subjekt. Was genau steht hier auf dem *Spiel? Handelt es sich um einen blossen Unfall, einen Kurzschluss des Absoluten und einem seiner partikularen Elemente? Antonio Gramsci hat ein schönes Beispiel für dieses Problem geliefert: "Man könnte sich einen Rekruten vorstellen, der den Musterungsoffizieren die Theorie vom Staat als einem über den Individuen stehenden erklärt und verlangt, dass sie seine physische und materielle Person freilassen und jenes Etwas einziehen, das dazu beiträgt, das Nationale Etwas zu konstruieren. Warum muss dieses Unterfangen fehlschlagen? Für Gramsci ist die Antwort klar: Weil die Substanz (das nationale Etwas) nicht mehr ist als seine *Subjekte, d. h. weil das nationale Etwas kein vor-subjektiver Grund ist, hat der Rekrut nichts mehr zu geben als sich selbst, als seine der Kontingenz, der Spaltung und dem ideologischen Schein unterworfene physische materielle Person. Das Etwas, "das dazu beiträgt, das Nationale Etwas zu konstruieren ist für Gramsci dem Subjekt äusserlich. Aber diese intersubjektive Perspektive schlägt hier völlig fehl. Um die soziale Substanz zu erklären (im Sinne der Identifizierung mit dem Nationalen Etwas), müssen wir die Verhältnisse umkehren: Das Etwas mag dem Subjekt äusserlich sein, aber das, wofür das Subjekt steht Kontingenz, Spaltung, Verkennung ist der Substanz selbst innerlich. Mit anderen Worten, Subjekt steht für den Mangel und den inneren antagonistischen Riss in der Substanz selbst. Oder, um es auf althusserianisch zu sagen: Das Subjekt repräsentiert das* imaginäre Verhältnis der Substanz zu ihren realen Existenzbedingungen.
Während Gramscis Beispiel auf der Seite des* Subjekts steht, demonstrieren uns die Warchowski-Brüder in ihrem SciFi-Thriller The *Matrix die Perspektive der Substanz. Morpheus, der Anführer der Aufständischen, ist durch Verrat in die Hände der Software-Agenten der Matrix gefallen. An die Foltersequenz schliesst ein grossartiger Monolog an, in dem Agent Smith Morpheus seine Sicht der Dinge darlegt:
Agent Smith leans close to Morpheus, whispering to him.
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AGENT SMITH
Can you hear me, Morpheus? I'm going to be honest with you.
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He removes his earphone, letting it dangle over his
shoulder.
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AGENT SMITH
I hate this place. This zoo.
This prison. This reality,
whatever you want to call it, I
can't stand it any longer. It's
the smell, if there is such a
thing. I feel saturated by it. I
can taste your stink and every
time I do, I fear that I've
somehow been infected by it.
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He wipes sweat from Morpheus' forehead, coating the tips
of his fingers, holding them to Morpheus' nose.
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AGENT SMITH
He lifts Morpheus' head, holding it tightly with both
hands.
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AGENT SMITH
I must get out of here, I must get
free. In this mind is the key.
My key.
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Morpheus sneers through his pain.
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Die Notwendigkeit der Folter erklärt sich aus der persönlichen Verantwortung Morpheus für die Anwesenheit von Agent Smith in diesem ekelhaften urbanen Gefüge, dessen Gestank er kaum ertragen kann hier haben wir es mit einer sozialen Substanz, mit einem Absoluten zu tun, das sich selbst buchstäblich nicht riechen kann. Der Moment, in dem Smith den Ohrstöpsel herauszieht, der ihn mit der Matrix verbindet, ist präzise der Moment der spekulativen Identität von Substanz und Subjekt.
Die Grausamkeit der Folter, die beinahe zum Tod von Morpheus führt, steht für die Rache der Substanz am Subjekt. Morpheus wird für sein Vergehen, für seine kritische Haltung gegenüber der sozialen Substanz bestraft. Diese Rache gilt nicht nur demjenigen, der sich nicht mit der sozialen Substanz, dem Nationalen Etwas identifiziert, der auf die ideologische Anrufung durch die Nation nicht antwortet, sondern sie ist für diese Anrufung selbst konstitutiv. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen: Gerade die Rache der Substanz für das Fehlschlagen der Anrufung ist der Garant für ihren schlussendlichen Erfolg, die Folterung Morpheus führt zum sozusagen dialektischen Umschlagen von Neo zu The One und zur ultimativen Begründung der Matrix als absolutem sozialen Horizont
Der Ideologische *Alpenapparat
Die *Heimat verdeckt als phantasmatische Plombe dieses Aus den Fugen sein der sozialen Substanz, d. h. die Unmöglichkeit der ideologischen Anrufung. Sie bietet eine mythische, sich aus *Phantasien nährende Erzählung, die sich in letzter Instanz auf Unmöglichkeit einer reinen, symbolischen *Narration des sozialen Ganzen stützt. Um es auf simple Art und Weise zu sagen: Wir wissen, wer wir sind, weil wir wissen, wo wir sind. Die rohe, stupide Landschaft stopft den Mangel in der sozialen Substanz und verwandelt sich dadurch in eine Entität mit quasi-mythischen Eigenschaften. Natürlich ist jeder Berg nur ein grosses Stück stumpfsinnger Fels, aber dennoch
Wie kann sich diese Erzählung in der Landschaft einnisten, wie verhindert sie, dass sie bloss frei flottierend, ohne direkten Zugriff und also völlig arbiträr über ihr schwebt?
Comencini ist mit Heidi eine beinahe perfekte Visualisierung dieser Kongruenz der Topographie der Heimat und der Topologie der ideologischen Anrufung gelungen. Sein Ideologischer Alpenapparat, um Althusser zu paraphrasieren, vernäht buchstäblich Landschaft und Ideologie, die Bergwelt Heidis und ihre Phantasie der Heimat, in dem er beidem einen Anfang gibt: Der Echograt, eigentlich nur ein reines Ufer eines Bergsees, ein Ufer ohne die dazugehörige Landschaft, verkörpert jenen mythischen Ort, von dem aus sich die Erzählung der Heimat über die Landschaft ausbreitet und an dem sie direkt mit ihr zusammenfällt. Dieser "Anfang vom Anfang, wie Heidi ihn nennt, scheint einen prekären ontologischen Status zu haben, er schwebt auf seltsame Art und weise in der ihn umgebenden Bergwelt, die wir erst nur als Widerspiegelung auf der Oberfläche des *Sees erkennen können. (Und tatsächlich erfahren wir im zweiten Heidi-Film, wo Geissenpeter zwei Landvermesser aus der Stadt trifft, dass der Echograt auf keiner Karte verzeichnet ist.) Dieser mythische Ort produziert eine Reihe ideologischer Effekte. Er funktioniert nicht nur als Vermittler zwischen der stupiden Felsmasse der Bergwelt und dem kulturellen Narrativ der Heimat, in dem er uns Widerspiegelungen, d. h. Repräsentanzen einer Landschaft anbietet, die wir an diesem Ort nicht zu Gesicht bekommen, sondern vernäht Landschaft und Phantasma auch über die Stimmen von Heidi und Geissenpeter. Das Echo ihrer Stimmen (sie rufen gegenseitig ihre Namen), die akkustische Widerspiegelung, repräsentiert die Individuen in der Landschaft. Aber die ultimative Anrufung ist auf ein Vergehen angewiesen, auf einen Mangel in der Anrufung selbst: in dem Moment, wo Geissenpeter ein Schimpfwort hinausruft, bleibt das Echo aus. In diesem traumatischen Moment sind die Gesetze der Realität suspendiert, der gegenüberligende riesige Gletscher verwandelt sich plötzlich in inerte, anamorphotische Substanz, die wie ein schmutziger Fleck am Berghang klebt und ein Loch in das Landschaftsbild reisst. Wir haben es hier mit dem zu tun, was Althusser die Anwesenheit einer Abwesenheit nennt: ein eindeutiger Mangel, das Ausbleiben eines notwendigen Elementes in einer Reihe von Effekten, der gleichzeitig ein Überschuss ist, eine Abwesenheit, die eindeutig ein Element zuviel darstellt in Bezug auf die Reihe der Effekte. Dieser Mangel verwandelt das natürliche Signal des Echos in einen Signifikanten der Heimat.
Diese Rache der Substanz ruft die Individuen als Subjekte der Heimat an. Wie Elisabeth Bronfen in Bezug auf Wizard of Oz apodiktisch formuliert hat, ist "Heimat das, wovon man singen muss weil man nicht davon sprechen kann und tatsächlich kann nur Gesang das Subjekt mit der Substanz versöhnen. Im Abendrot tritt Heidi vor die Tür der Hütte und beginnt zu singen, und der Chor der Alpen antwortet ihr, sodass diese Sequenz über die Anrufung durch die Landschaft mit dem harten Imperativ des ideologischen Alpenapparates endet: "Und singet von Berg und Tal!
Wie auf dem Echograt ist auch im urbanen Raum das Aussen nur in seinen Repräsentationen gegeben. Auch er scheint einen prekären ontologischen Status zu haben, er ist nicht einfach nur eine Anordnung von Gebäuden und Strassenzügen, von Verkehrsverbindungen und medialen Netzen usw. In seinem Innern streiten eine Vielzahl von Fiktionen beziehungsweise Artikulationen über die Art und Weise, wie seine Topographie organisiert ist. Mit anderen Worten: seine soziale Realität ist immer von einer fundamentalen Unmöglichkeit, von einem Antagonismus durchsetzt, der verhindert, dass er als Ganzes, als gesellschaftliche Totalität wiedergegeben werden kann. Um ein simples Beispiel zu geben: durch Zürich fliesst ein Fluss, der die Stadt in eine rechte und eine linke Seite teilt. Links: Arbeiterviertel, Billigdiscounter, Rotlichtmilieu, Drogenszene Rechts: Villenviertel, Opernhaus, Universität, historische Altstadt usw. Diese geographische Lage scheint in idealer Weise dafür geeignet zu sein, eine allgemeingültige Markierung für die Topographie der Stadt zu liefern. Wir leben links vom Fluss Wir leben rechts vom Fluss. Das ist aber nicht so, weil sich auf diese Markierung nur diejenigen beziehen, die rechts Leben. Die anderen teilen die Stadt nach oben und unten: Die Demarkationslinie ist hier die Hochwassermarke im Falle eines Staumauerbruches des Sihlsees.
Die Schweiz verfügt sogar auf der nationalen Ebene über eine solche asymmetrische Markierung: wie man weiss, teilt der berühmte Röstigraben das Land : auf der einen Seite die Deutsch- auf der anderen die welsche Schweiz. Das ist aber kein einfaches Hüben und Drüben: das gibt es nur für die Welschschweiz, während die Deutschschweiz eine solche Trennung kategorisch ablehnt. Für sie ist die Schweiz im Prinzip überhaupt nicht geteilt, ausser vielleicht durch den Umstand, dass die Romands auf so Märchen wie dem Röstigraben beharren
Interessanterweise gibt es für Röstigraben kein französisches Wort: es ist immer der *Andere, der die eigene Unmöglichkeit, das Hindernis, sich als selbsttransparentes Ganzes zu konstituieren artikuliert.
Hier handelt es sich um einen Antagonismus in seiner reinsten Form: Gesellschaft ist um eine fundamentale Asymmetrie herum strukturiert, die sie daran hindert, ihre volle Präsenz zu entfalten, sich vollständig in rein symbolischen Verhältnissen zu konstituieren. Wie kommt es dann, dass sie dennoch harte Realität ist, welches Element verleiht ihr Konsistenz? Im *Diskurs der Nation haben wir dieses Element vorher als Narration der Heimat am Werk gesehen. In der Sprache der Psychoanalyse kann man eine solche Erzählung als Phantasma bezeichnen.
In der lacanianischen Psychoanalyse bedeutet Phantasma die Art und Weise, wie das Begehren um einen traumatischen Punkt herum strukturiert ist, der nicht symbolisiert werden kann. Es ist eine Formation, die diesen unmöglichen / realen Kern wie eine Plombe zu verschliessen sucht. In der Art und Weise, wie die Menschen ihr Geniessen organisieren, ist für die lacanianische Psychoanalyse also immer eine Art Dislokation am Werk. Um es im Jargon der guten alten Ideologiekritik zu sagen: Es liegt eine Verzerrung und eine Verschleierung vor. Die Funktion der phantasmatischen Plombe ist die Verschleierung der strukturellen Verzerrung, d.h. die Operation der Schliessung besteht in der Verschleierung der Unmöglichkeit ihrer eigenen Operation. Mit anderen Worten: Die Schliessung ist ist gleichzeitig notwendig und unmöglich. Unmöglich, weil die Arretierung einer Artikulationskette nur über eine Inkarnation möglich ist: über die Dekontextualisierung eines ihrer partikularen Elemente, also die Zuschreibung der Schliessung auf ein partikulares Element, das damit radikal inkompatibel ist. Notwendig ist sie, weil ohne eine solche Arretierung überhaupt kein Begehren, keine Bedeutung möglich wäre. Deswegen wird Ideologie dem Reich der Ewigkeit zugerechnet. Für Althusser beispielsweise gibt es aus dem Vexierspiel der Spiegelungen durch die Mechanismen der ideologischen Anrufung kein Entkommen. Die Verzerrung der Repräsentation ist notwendig in die soziale Reproduktion eingeschrieben, und das dadurch entfremdete Subjekt bildet das immanente Gegenlager, eine Art negativen Angelpunkt des objektiven Sinns der Geschichte ohne Subjekt. Aus der Perspektive der ursprünglichen Dislokation können wir dieses Verhältnis nun umkehren: Ideologie ist ewig, nicht weil das Jenseits der objektiven Geschichte, der objektive Sinn dem Subjekt immer verschleiert bleiben muss, sondern weil die Unterstellung dieses objektiven Sinns, seine Konstruktion als ein Jenseitiges die ultimative Form der Verschleierung selbst ist.
Wieder haben wir es mit der Anwesenheit einer Abwesenheit zu tun. Der Glaube, dass es eine soziale Formation gibt, die den objektiven Sinn artikulieren und so den hybriden sozialen Raum in ein homogenes, selbsttransparentes Ganzes verwandeln kann, artikuliert das Abwesende, den jenseitigen objektiven Sinn in Form der Inkarnation des Geheimnisses und stattet ihn so mit Präsenz aus.
Geheimniskrämerei
Eine der berühmtesten Analysen der Wirkungsweise dieses Geheimnisses ist natürlich Marx Lektüre von Szeligas Kritik des französischen Zeitungsromans Die Geheimnisse von Paris von Eugen Sue. Der Held Grossherzog Rudolf von Gerolstein befindet sich auf einer Art Shoppingtour durch das Dickicht von Paris. Er betreibt Geheimniskrämerei, will die Geheimnisse von Paris, die Grammatik urbanen Zusammenlebens enthüllen und modifizieren. Dabei gelingt es ihm in den Augen von Marx, unter kräftiger Beihilfe von Sue und Szeliga folgende Geheimnisse zu akkumulieren:
1) Das Geheimnis der Verwilderung in der Zivilisation und das Geheimnis der Rechtlosigkeit im Staate
2) Das Geheimnis der spekulativen Konstruktion
3) Das Geheimnis der gebildeten Gesellschaft
4) Das Geheimnis der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit
5) Das Geheimnis als Spott
6) Das Geheimnis des Weltzustandes der Geheimnisse von Paris ("Diese Welt der Geheimnisse ist nun der allgemeine Weltzustand, in welchen die individuelle Handlung der Geheimnisse von Paris versetzt ist.)
7) Das Geheimnis der Verwandlung eines Metzgers in einen Hund
8) Das Geheimnis der kritischen Religion
9) Das Geheimnis des Rechts
10) Das Geheimnis des Standpunktes
11) Das Geheimnis der Utilisierung der menschlichen Triebe
12) Das Geheimnis der Emanzipation der Weiber
13) Das Geheimnis der Nationalökonomie
14) Und schliesslich das Geheimnis von Rudolph, "das enthüllte Geheimnis aller Geheimnisse
Um es kurz zu machen: hier sind sowohl die ideologische Operation wie auch der ideologische Effekt par excellance am Werk:
1) die Operation besteht in den Worten von Marx in der Verwandlung "wirklicher Trivialitäten in Geheimnisse
2) Der Effekt besteht in der Strukturierung der Gesellschaft durch dieses Geheimnis, d.h. durch den Glauben an eine spezifische soziale Formation, die die Fülle und Selbsttransparenz der Gesellschaft herbeiführen kann. Das Geheimnis, das diese Formation enthält, braucht nur "enthüllt zu werden. Sein Motor ist die "curiosité craintive.
Eine "wirkliche Trivialität wird in ein "Geheimnis verwandelt: Sie wird zu etwas, das mehr ist als es selbst sie inkarniert den supponierten objektiven Sinn, dessen Wahrheit irgendwo da draussen zu finden ist.
Greifen wir, um den Effekt dieser Operation zu beschreiben, ein Geheimnis heraus: das Geheimnis des Rechts.
Nach dem Fehlschlagen seiner Rache am schurkischen maître d école, dessen Blendung durch Rudolph ihm keineswegs den Willen zum Bösen genommen hat, entwickelt Rudolph eine "doppelte Justiz: Da sich sein eigenes Straf*system als nicht ausreichend erwiesen hat, folgert er, dass die Asymmetrie in der Gerichtsbarkeit jedes Recht unterhölt.
"Um die Bösen zu schrecken, materialisiert man die vorweggenommenen Wirkungen des himmlischen Zorns. Warum sollte man nicht die Wirkung der göttlichen Belohnung in bezug auf die Guten in ähnlicher Weise materialisieren und auf Erden antizipieren?
Wie das? Marx erstellt uns in mühsamer Kleinarbeit eine Tabelle:
Tabelle der kritisch vollständigen Justiz
Bestehende Justiz |
Kritisch ergänzende Justiz |
Namen: Justice Criminelle |
Namen: Justice Vertueuse |
Signalement: hält in der Hand ein Schwert, um die Bösen um einen Kopf zu verkürzen. |
Signalement: hält in der Hand eine Krone, um die Guten um einen Kopf zu erhöhen. |
Zweck: Bestrafung des Bösen, Gefangenschaft, Infamie, Lebensberaubung.
Das Volk erfährt die schreckliche Züchtigung des Bösen. |
Zweck: Belohnung des Guten, Freitisch, Ehre, Lebenserhaltung.
Das Volk erfährt den eklatanten Triumph für den Guten. |
Mittel, um die Bösen zu entdecken: Poli- zeiliche Spionage, Mouchards, um den Bösen aufzulauern. |
Mittel, um die Guten zu entdecken: Espionage de vertu, Mouchards, um den Tugendhaften aufzulauern. |
Entscheidung, ob einer ein Böser sei: Les assises du crime, Assisen für das Verbrechen. Das öffentliche Ministerium signalisiert die Verbrechen des Angeklagten und denunziert sie der öffentlichen Rache. |
Entscheidung, ob einer ein Guter sei: Assises de la vertu, Assisen für die Tugend. Das öffentliche Ministerium signalisiert die edlen Handlungen des Angeklagten und denunziert sie der öffentlichen Erkenntlichkeit. |
Zustand des Verbrechers nach dem Urteil: Er steht unter der surveillance de la haute police. Er wird ernährt im Gefängnis. Der Staat macht Ausgaben für ihn. |
Zustand des Tugendhaften nach dem Urteil: Er steht unter der surveillance de la haute charité morale. Er wird ernährt in seinem Hause. Der Staat macht Ausgaben für ihn. |
Exekution: Der Verbrecher steht auf dem Schafott |
Exekution: Gerade gegenüber dem Schafott des Verbrechers erhebt sich ein Piedestal, worauf der grand homme de bien steigt ein Tugendpranger. |
Also, mit Sue: "Hélas, c est une utopie, mais supposez qu une societé soit organisé de telle sorte
Womit haben wir es bei dieser Behebung einer grundlegenden Asymmetrie zu tun? Marx benennt das Problem folgendermassen: "Wenn die Gesellschaft nicht alle Guten belohnt, so ist dies unumgänglich nötig, damit die göttliche Gerechtigkeit doch irgend etwas vor der menschlichen habe.
Mit anderen Worten: Wo sich die Repräsentation der selbstrtransparenten Fülle der Gesellschaft der Partikularität des Elementes vollständig entledigt, das sie inkarniert, würden der inkarnierte objektive Sinn und das inkarnierende Element seiner Artikulation in eins fallen. Die Abwesenheit einer Verzerrung in der Artikulation zwischen beiden würde zur Auflösung des objektiven Sinns führen. Ohne diese minimale Trübheit ein Zustand, der gemeinhin mit einer neutralen, politikfreien Verwaltungspraxis oder social engineering verbunden wird würde sich aber auch das Universum der artikulierten Bedeutung auflösen die vollste aller Gesellschaften wäre dann auch gleichzeitig die leerste.
Wie können wir dann den Status dieser Tabelle bestimmen? Sie ist die materialisierte, buchstäblich gewordene Trübheit des Verhältnisses, das sie beschreibt: die phantasmatische Plombe, die den Riss in der Äquivalenzkette der Artikulationen des Sozialen schliesst dahinter nichts. Wir dürfen ihr uns nur unter der Bedingung des Glaubens nähern ("Supposez qu une societe soit organisé de telle sorte
), während sie gleichzeitig in einem Jenseits verortet ist ("Helas, cest une utopie
)
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