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Von der Bergeslust und anderen Selbstverständlichkeiten kulturtopographischer *Räume Matthias Stremlow Warum ist eine *Alpenmilchschokolade besser als eine Normale? Oder eine Alpenwanderung attraktiver als ein Spaziergang am Zürichsee? Die Antworten scheinen einfach: weil mit dem Motiv der Alpen eine besondere Qualität und Reinheit verbunden wird. Und warum wird diese Botschaft in unserem Kulturraum ganz selbstverständlich verstanden? Einblicke erlaubt eine kulturgeschichtliche *Reise. Unser Ausgangspunkt: Die Alpen im Kopf. "Alpen" welche *Bilder kommen Ihnen zu diesem Stichwort in den Sinn? - Sind es ländlich-idyllische Landschaften mit blühenden Wiesen, rauschenden Bächen, zufriedenen Kühen und einer Alphütte? Die Alpen Ihrer Kindheit, der *Heimat*filmer und* TouristikerInnen? - Sind es unberührte, archaische Felsenlandschaften mit Gletschern und *Schneefeldern, eine nahe Erlebniswelt der Extreme, die Alpen der Sporttreibenden? - Sind es Bilder von einmaligen Biotopen und wertvollen Lebensräumen, die Alpen als besonders sensible und bedrohte Öko*systeme? - Sind es Vorstellungen von extremen Umweltzerstörungen und Naturgefährdungen, von Lawinen, Murgängen und Überschwemmungen? Die Alpen als dynamische, ja zuweilen bedrohliche Öko*systeme? - Oder sind es die Alpen als Lebens- und Wirtschaftsraum von rund 13 Millionen Menschen? Bilder von städtischen Ballungsräumen, Transitachsen und intensiver Landwirtschaft? Diese Vorstellungen sind nicht nur durch Ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse geprägt. Sie sind auch durch kulturell vermittelte Bilder, durch Mythen und Erzählungen beeinflusst. Die Bewertung liegt dabei nicht im Objekt "Alpen" selbst. Die Alpen sind weder "schön" noch "hässlich", weder "idyllisch" noch "erhaben". Die Bewertung ist vielmehr Resultat einer gesellschaftlichen Interpretation. Dabei werden die prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten, die Bergwelt zu deuten, zu kollektiv gefestigten Beschreibungsmustern verdichtet. Durch diese Konventionalisierung des arbiträren Zeichens "Alpen" wird die Orientierung und Verständigung über eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit vereinfacht. Durch eine vergleichende Lektüre unterschiedlicher Texte ist eine Annäherung an die gesellschaftlich verankerten Vorstellungen und Wertungen möglich. Semantische *Raumbilder werden dabei als historische Phänomene erkennbar. Machen wir uns weiter auf den Weg zurück in die Zukunft. 2. Station: Ein aktuelles Schaubild im Schweizerischen Alpinen Museum. "Die Vorstellung, dass in den Bergen - im Gegensatz zum städtischen Alltag - ein friedliches, stilles, romantisches und beschauliches Leben, eben ein Idyll, vorherrscht, haben wir alle in uns bewahrt." Diese Beschreibung arbeitet zentral mit den Bedeutungsinhalten der "Idylle". Damit greift sie eine kulturgeschichtlich gängige Semantik auf, die im Blick vom Flachland auf die Alpen entstanden ist. In den letzten dreihundert Jahren waren es die Alpenentwürfe ausseralpiner Menschen, welche die gesellschaftliche *Rezeption dieses Raumes und entsprechend unser Handeln massgeblich geprägt haben. Worin wird dieses Faszinosum der Alpen gesehen? Wenden wir uns auf unserem Gang durch die Wahrnehmungsgeschichte der Alpen dem romantischen Alpenbild zu. Unsere 3. Station: Von den schrecklichen zu den schrecklich idyllischen Alpen. Obwohl die Alpen seit Jahrhunderten besiedelt und kultiviert wurden, blieben sie den meisten Menschen des Flachlandes bis weit in die Neuzeit fremd und unheimlich. Die alpinen Landschaften widersetzten sich dem damaligen Schönheitsbegriff. Damit sie für Reisende anziehend werden konnten, musste das negative Image überwunden und neue Sehweisen eingeübt werden. Dieser Paradigmenwechsel von den "schrecklichen" zu den "erhabenen" Alpen vollzog seit dem 16. Jahrhundert und verfestigte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Alpen wurden in den Augen der Reisenden zum erhabenen Naturschauspiel, das vielfältige Gefühle auslöste und ästhetischen Genuss versprach. In einem vielbeachteten Reisehandbuch betont Johann Gottfried Ebel (1763-1830) den Erlebniswert des neuen Reisezieles treffend: Die Alpen wurden zum Ort, "wohin alle Anbeter der Natur pilgern, und wo sie für ihre Opfer in dem vollsten, reinsten Masse Belohnung und Befriedigung erhalten sollten" (Ebel 1793: 9). Die ästhetische Wahrnehmungsweise der Berglandschaft unterschied sich von einer inneralpinen Sicht der alltäglichen Umgebung. Auf diese Differenz verwies Immanuel *Kant (1724-1804) bereits 1790 in seiner "Analytik des Erhabenen": "In der That wird ohne Entwickelung sittlicher Ideen, das, was wir, durch Cultur vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen bloß abschreckend vorkommen. (...) So nannte der gute, übrigens verständige savoyische Bauer (wie Hr. v. Saussure erzählt) alle Liebhaber der Eisgebirge ohne Bedenken Narren." (Kant 1968, S. 265). Durch "Cultur vorbereitet" war die Wahrnehmung der Alpen bereits vor Reiseantritt vorbestimmt. Die Landschaftseindrücke wurden gemäss dem eingeübten Vorstellungsrasters gefiltert. Die unterschiedlichen Sehweisen zwischen Einheimischen und Reisenden konnten schon einmal ganz handfest erlebt werden. So berichtet etwa der englische Historiker und Geistliche Wiliam Coxe (1747-1828) von seiner Reise durch den Kanton Glarus folgende Begebenheit: "Der Zauber dieser Scenen nahm mich so ein, dass ich alle Augenblicke stillstehen musste, um mich der hohen Bewunderung zu überlassen. Unser Wegweiser konnte nicht begreifen, dass an diesem Stillstand was anders Schuld seyn könnte, als die Trägheit seines Pferdes; so oft ich also Halt machte, ermangelte er nie, das arme Thier unbarmherzig zu schlagen und mich aus meiner Entzückung ohne Unterlass aufzuwecken." (Coxe 1781, S. 45). Der Einheimische versteht die Alpenbegeisterung des ausländischen Reisenden nicht. Für ihn bildete die Landschaft den *heimatlichen Lebens- und Wirtschaftsraum. Als "schön" erscheinen ihm nur die ertragreichen und gut zu bearbeiteten Flächen, nicht die Berglandschaft insgesamt. Diese Anekdote aus dem Jahre 1780 liefert einen wichtigen historischen Hinweis auf die soziale und gesellschaftliche Verortung des gewandelten Alpenbildes. Wie kann die Semantik der Alpen des ausgehenden 18. Jahrhunderts charakterisiert werden? Ich möchte auf zwei wichtige Kernelemente hinweisen: Die Basis der romantischen Sichtweise ist die traditionelle Kulturlandschaft, die mit hochalpinen Szenen kontrastiert wird. In diesem Raumentwurf werden die Landschaft und die Einheimischen idealisiert. Diese Idealisierung aus der Fremdoptik des Flachlandes basiert auf einer räumlichen und zeitlichen Trennung von Ebene und Alpen. Im mythisierten Raum der Alpen schienen sich die gesuchten Reste einer heilen, urtümlichen Welt erhalten zu haben. Durch diese Enthistorisierung des Berggebietes vom Flachland wird die positive Qualität der Alpen begründet. Die alpine Natur und Gesellschaft wird zum Projektionsraum für die Kritik an den als dekadent erlebten Zuständen an Fürstenhöfen und in Städten. Albrecht von Haller (1708-1777) hat mit seinem Gedicht "Die Alpen" diese Sichtweise wesentlich beeinflusst. Im 19. Jahrhundert führte die Industrialisierung und* touristische Erschliessung der Alpen zu einer Verschiebung in der semantischen Kodierung. Der *utopische Gehalt, insbesondere in der Gesellschaftskomponente, schwächte sich zu einer idyllischen Bergwelt ab. Alltagsentlastung und Heilung wurden gegenüber dem 18. Jahrhundert verstärkt betont: "Nach wie vor werden alljährlich die ungezählten Tausende zu ihr [der Alpenwelt] emporpilgern wie zu einer Heilstätte und sich dort die Arznei holen für das, was das moderne Leben an ihnen verbrochen hat und verbrechen wird" (Noë 1887: 696). Diese Funktionalisierung akzentuiert für das Berggebiet das *Diskursmuster Natur-Freizeit-Erholung. Heimatfilme, Bildbände, Postkarten und populäre Bergromane haben die Botschaft einer heilen und in nationalen* Diskursen oft auch *heimatlichen Bergwelt popularisiert. Das "wir" im Einleitungszitat ist beredtes Zeugnis einer kollektiven Verankerung dieses Alpenbildes. Touristische Werbeprospekte arbeiten noch bis heute mit den gängigen *Metaphern: Das "liebliche Ferienparadies" des Thunersees ist gemäss Ferienprospekt von 1994 umgeben von "blumigen Wiesen, kühlen Wäldern und felsigen Schluchten", wo eine "Fülle schöner Wandermöglichkeiten inmitten einer beinahe unberührten Fauna und Flora" besteht (Verkehrsverband Thunersee 1994). Durch diese von Tourismusfachleuten inszenierte Postkartenidylle und entsprechende touristische Angebote werden die Erwartungen der Reisenden nach einem schönen Landschaftsbild und einer gelebten ländlichen Kultur kanalisiert. Dabei reicht die Inszenierung von der Destinationsbezeichnung wie beispielsweise "*Heidiland", über Bauvorschriften und alpine Architektur im Chaletstil, die Kleidung des Servicepersonals bis hin zu folkloristischen Events. Unsere 4. Station: Gewandelte Alpenbilder des ausgehenden 20. Jahrhunderts Parallel zu der Fortschreibung des kulturell verankerten Alpenbildes einer idyllischen Gegenwelt entstanden in den letzten Jahrzehnten neue Darstellungen. Die einheitliche Alpenbildlichkeit zerfiel je nach Kontext und Interesse. Die Alpen wurden beispielsweise zur Sportarena. Auffälligstes Merkmal der aktuellen Berichterstattung in Fachmagazinen der Aktivsportarten Gleitschirmfliegen, Mountainbiking und Snowboarding ist die geringe Thematisierung der landschaftlichen Arena, in welcher die Aktivitäten ausgeübt werden. Die Alpen werden nur selten und nicht mehr detailliert beschrieben. Die vorhandenen Darstellungen beruhen dabei aber weitgehend auf den überlieferten Charakterisierungen wie "atemberaubend", "majestätisch", "erhaben" oder "malerisch" und "idyllisch". Die Darstellung alpiner Sportgebiete reduziert sich beispielsweise in den Snowboardmagazinen auf die Namen der Skilifte sowie die Ausgeh- und Übernachtungsmöglichkeiten. Auch Erlebnisberichte von Langstreckenflü-gen beschränken sich manchmal über mehrere Seiten auf die Angaben zu thermischen Verhältnissen, Routen und Orientierungspunkten. Hinweise auf Leben, Werk und Kultur der Einheimischen finden sich in den untersuchten Magazinen, im Gegensatz zu Wanderzeitschriften, kaum oder keine. Dieses Ergebnis findet sich in den Abbildungen und Farbfotos bestätigt. Landschaftsansichten werden kaum als Selbstzweck präsentiert. Im Blickpunkt stehen die Sporttreibenden und die zur Sportart gehörenden modischen Accessoires. Freilich wird in den Abbildungen nicht auf einen stimmungsvollen landschaftlichen Hintergrund verzichtet. Die Landschaft bleibt dabei aber oft ausschnitthaft und nicht namentlich erwähnt. Letztlich dient die *Ästhetisierung der Alpen der Inszenierung der Sporttreibenden. Die Alpen bilden die landschaftliche Folie für die Identitäts- und Gruppenbildung. Ein weiterer Bildgebungsprozess vollzog sich in den Diskussionen des Alpenschutzes: Vom Bild der Naturlandschaft, zum labilen Ökosystem bis hin zur Modellregion Europas. Die Vorstellung einer "heilen Bergwelt" erschien angesichts der Veränderungen durch Massentourismus, Verkehr und Wasserkraftnutzung seit den 1950ern zunehmend überholt. In Publikationen von Umweltverbänden und verschiedenen Medien entstanden deshalb Alpendarstellungen, die sich auf spezifische Probleme wie den Transitverkehr oder den Bergwald konzentrierten. So werden die Alpen beispielsweise als Transitraum, als verschandelte Tourismuslandschaft, als Katastrophenraum oder als labiles und gefährdetes Ökosystem beschrieben. Teilweise orientierte sich dabei die Wahrnehmung und Bewertung an den vermeintlichen Idealen des tradierten romantischen Alpenbildes. In den letzten Jahren sind Bemühungen ersichtlich, diese durch einen urbanen Kontext beeinflussten Alpenbilder kritisch zu hinterfragen und an der Realität im Alpenraum zu überprüfen. Eine differenzierte Alpenbildlichkeit wird durch die Alpenkonvention gefördert. In der Präambel dieses Vertragswerkes wird der Alpenbogen charakterisiert als "einer der grössten zusammenhängenden Naturräume Europas und ein durch seine spezifische und vielfältige Natur, Kultur und Geschichte ausgezeichneter Lebens-, Wirtschafts-, Kultur- und Erholungsraum im Herzen Europas". Dieser Raum wird nicht mehr aus dem Modernisierungsprozess ausgegrenzt und dadurch quasi geschichtslos wahrgenommen. Als Herz eines Europas der Regionen besitzen die Alpen auch in der räumlichen Semantik die nötige Ausstrahlungskraft, um die Funktion eines Modellgebietes für eine nachhaltige Entwicklung übernehmen zu können. In dieser Vorstellung der Alpen deutet sich ein inner- und ausseralpin getragenes Alpenverständnis an. Die dargelegte Ausprägung gruppenkonstituierender Alpenbilder im ausgehenden 20. Jahrhundert entspricht einer gesellschaftlichen Entwicklung. In den letzten zwanzig Jahren veränderte sich das kulturell verankerte Alpenbild einer idyllischen Gegenwelt. Der Wandel hat sich in verschiedenen Interessengruppen und Themenbereichen wie Sport und Tourismus, Alpenschutz, Politik und Wirtschaft vollzogen. Die einheitliche Alpenbildlichkeit ist in verschiedene, unabhängig voneinander bestehende Entwürfe wie beispielsweise die Alpen als Sportarena, als Wildnisgebiet, als Lebens- und Wirtschaftsraum oder als labiles Ökosystem zerfallen. Die unterschiedlichen Alpenbilder können je nach Kontext in der gleichen Person handlungswirksam werden. Insgesamt sind die Alpen damit bis auf den heutigen Tag Symbolisierungsräume geblieben ja, sie haben durch die ökologischen Bestrebungen der letzten Jahre an Aktualität gewonnen. Erwähnte Literatur - Bundeskanzlei (1997), Botschaft zum Übereinkommen zum Schutz der Alpen (Alpenkonvention) und zu verschiedenen Zusatzprotokollen. Bundesblatt 1997, IV, S. 660. - Coxe, W. (1781), Briefe über den natürlichen, bürgerlichen und politischen Zustand der Schweiz. Deutsche Übersetzung des englischen Originals von 1779, Zürich 1781. - Ebel, J. G. (1793), Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweitz zu reisen. Zwei Teile, Zürich 1793. - Haller, A. von (1732), Die Alpen, in: ders.: Versuch Schweizerischer Gedichten, Bern, S. 1-25. - Kant, I. (1968), Analytik des Erhabenen, in: ders., Kritik der Urteilskraft, § 23-29, Kants Werke, Akademie-Textausgabe, 5. Band, *Berlin 1968, S. 244-266. - Noë, H. (1887), Mahnungen aus den Hochalpen, in: Die Gartenlaube, 1887, Nr. 41, S. 672-76 und Nr. 42, S. 695-696. - Stremlow, M. (1998), Die Alpen aus der Untersicht. Von der Verheissung der nahen Fremde zur Sportarena. Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700. Bern/Stuttgart/Wien. - Stremlow, M. (1999), Postkarten aus dem "Dachgarten Europas". In: Tourismus Journal, 3. Jg. (1999) Heft 2, S. 255-274. - Verkehrsverband Thunersee (1994), Thunersee attraktiv, Uetendorf. word doc download word document |
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