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Obwohl die Alpen seit Jahrhunderten besiedelt und kultiviert wurden, blieben sie den meisten Menschen des Flachlandes bis weit in die Neuzeit fremd und unheimlich. Die alpinen Landschaften widersetzten sich dem damaligen Schönheitsbegriff. Damit sie für Reisende anziehend werden konnten, musste das negative Image überwunden und neue Sehweisen eingeübt werden. Dieser Paradigmenwechsel von den "schrecklichen" zu den "erhabenen" Alpen vollzog seit dem 16. Jahrhundert und verfestigte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Alpen wurden in den Augen der Reisenden zum erhabenen Naturschauspiel, das vielfältige Gefühle auslöste und ästhetischen Genuss versprach. In einem vielbeachteten Reisehandbuch betont Johann Gottfried Ebel (1763-1830) den Erlebniswert des neuen Reisezieles treffend: Die Alpen wurden zum Ort, "wohin alle Anbeter der Natur pilgern, und wo sie für ihre Opfer in dem vollsten, reinsten Masse Belohnung und Befriedigung erhalten sollten" (Ebel 1793: 9).
Die ästhetische Wahrnehmungsweise der Berglandschaft unterschied sich von einer inneralpinen Sicht der alltäglichen Umgebung. Auf diese Differenz verwies Immanuel *Kant (1724-1804) bereits 1790 in seiner "Analytik des Erhabenen": "In der That wird ohne Entwickelung sittlicher Ideen, das, was wir, durch Cultur vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen bloß abschreckend vorkommen. (...) So nannte der gute, übrigens verständige savoyische Bauer (wie Hr. v. Saussure erzählt) alle Liebhaber der Eisgebirge ohne Bedenken Narren." (Kant 1968, S. 265). Durch "Cultur vorbereitet" war die Wahrnehmung der Alpen bereits vor Reiseantritt vorbestimmt. Die Landschaftseindrücke wurden gemäss dem eingeübten Vorstellungsrasters gefiltert.


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Ausschnitt aus: Von der Bergeslust und anderen Selbstverständlichkeiten kulturtopographischer *Räume
Stremlow Matthias




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