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"die sorglos in Holzschuhen tanzende *Muse" Das Bild des Künstlers und das Genre der *Bildergeschichte: Rodolphe Töpffers Monsieur Pencil und Wilhelm Buschs Maler Klecksel

Dominik Müller








I.

Das 19. Jahrhundert hatte es sich angewöhnt, Komponisten, Dichter und Künstler als Heroen zu verehren. Ihre Werke wurden in prunkvollen Theatern, Bibliotheken und Museen gehegt, welche architektonisch den Behausungen von Fürsten angeglichen wurden, während ihre in Bronze gegossenen und in Stein gehauenen Bildnisse auf die hohen Sockel von Denkmälern gehoben wurden. Die enorme Fallhöhe, die aus solcher Idealisierung erwuchs, wurde in einer Reihe von Künstlerromanen und Künstlererzählungen vermessen, die vom Verfehlen des gesteckten Ziels und vom nicht selten katastrophalen Scheitern von Künstlerkarrieren berichten. Die Autoren scheinen lediglich vor der Wahl gestanden zu haben, ihre Künstlerhelden zum Schluss entweder in den Tod zu schicken (so Balzac in Le chef d'oeuvre inconnu, Mörike in Maler Nolten, Zola in L'oeuvre) oder sie dem Künstlerberuf den Rücken kehren zu lassen (nach dem Modell von *Goethes Wilhelm Meister etwa Stifter in Nachkommenschaften). *Gottfried Keller hat sich in den beiden Fassungen des Grünen Heinrich zuerst für die eine, dann für die andere dieser Schlussvarianten entschieden.

Die Kompromisslosigkeit, welche diese Erzählverläufe bestimmt, steht nun allerdings in einem eklatanten Kontrast zum tatsächlichen literarischen und künstlerischen Markt. Gerade die erwähnten Theater-, Museums- und Bibliotheksbauten führen vor Augen, welch grosse Zahl von Künstlern ihr Brot mit Dekorationsaufträgen verdienen konnten, mit Werken also, die in einem breiten Grenzbereich zwischen Kunst und Handwerk angesiedelt waren. Gebannt durch die Alternative des alles oder nichts, wird der Eintritt in einen solchen Bereich heruntergestufter Ansprüche von den Künstlererzählungen nur selten in Erwägung gezogen. In Kellers Roman versucht Heinrichs dänischer *Freund Erikson, mit einer bewusst kommerziell ausgerichteten Malerei ein Auskommen zu finden, zögert aber nicht, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit vollends zum Kaufmann zu werden.

Ausführlicher lässt sich E.T.A. Hoffmann mit der Künstlerbiographie, die er in seinem "Nachtstück" mit dem Titel Die Jesuiterkirche in G. schildert, auf eine solche mittlere Option ein. Ihr Protagonist, ein Maler namens Bertold, durchläuft in Italien eine steile Entwicklung, die aus ihm schliesslich einen zweiten Raffael macht. Die in Neapel ausbrechende Revolution krönt diese Traumkarriere durch eine private Glückserfüllung, indem sie dem Malergenie seine ferne Geliebte als Ehefrau an die Seite führt. Dies erweist sich aber als böses Verhängnis, untergräbt doch die alltägliche Nähe die alles entscheidende Macht dieser Muse und bringt Bertolds Kreativität zum Erliegen. Der unglückliche Künstler weiss sich nicht anders zu helfen, als sich der Frau zu entledigen, – man munkelt von einem Mord – und verdingt sich dann als Architekturmaler, der in deutschen Kirchen Trompe-l'oeils von kostbaren italienischen Marmoraltären auf die Wände zaubert. Hinreissend ist die nächtliche Szene gestaltet, in welcher ihn Hoffmann vom Malergerüst herab eine Strafpredigt halten lässt, worin er alle Künstler, die wie er einst selber nach dem vollkommenen Kunstwerk streben, als Frevler geisselt, weil sie als Schöpfer zu Gott in Konkurrenz treten wollen. Die Rede ist ein Plädoyer für eine Kunst, die, wie Bertolds Architekturmalerei, den Surrogatcharakter offen eingesteht, der ihr als Menschenwerk grundsätzlich innewohnt.

Das programmatische Vorliebnehmen mit einer Zwischenposition macht Berthold, dem Hoffmann bereits die Züge eines Heiligen mitgegeben hat, zu einer Art Schutzpatron der beiden Künstler, denen die nachfolgenden Überlegungen gewidmet sind: Rodolphe Töpffer (1799-1846) und Wilhelm Busch (1832-1908). Die beiden strebten in ihrer Jugend eine traditionelle Künstlerlaufbahn an, die sich dann aber aus unterschiedlichen Gründen nicht realisieren liess. In der *Bildergeschichte fanden sie später eine Art Surrogatkunst, die für sie zu dem ihnen gemässen Zwischenort wurde. Wilhelm Busch bestimmt in seinem autobiographischen Aufsatz mit dem Titel Was mich betrifft (Fassung von 1886) den Charakter dieser Zwischenkunst:


So nahmen denn bald die kontinuierlichen Bildergeschichten ihren Anfang, welche, mit der Zeit sich unwillkürlich erweiternd, mehr Beifall gefunden, als der Verfasser erwarten durfte. Wer sie freundlich in die Hand nimmt, etwa wie *Spieluhren, wird vielleicht finden, daß sie, trotz bummlichten Aussehens, doch teilweis im Leben geglüht, mit Fleiß gehämmert und nicht unzweckmäßig zusammengesetzt sind. Fast sämtlich sind sie in Wiedensahl gemacht, ohne wen zu fragen und, ausgenommen ein allegorisches Tendenzstück und einige Produkte des drängen-den Ernährungstriebes, zum Selbstpläsier. Hätte jedoch die sorglos in Holzschuhen tanzende Muse den einen oder andern der würdigen Zuschauer auf die Zehe getreten, so wird das bei ländlichen Festen nicht weiter entschuldigt. Ein auffällig tugendsames Frauenzimmer ist's freilich nicht. Aber indem sie einerseits den Myrthenzweig aus der Hand des übertriebenen Wohlwollens errötend von sich ablehnt, hält sie anderseits gemütlich den verschleierten Blick eines alten Ästhetikers aus, dem bei der Bestellung des eigenen Ackers ein Stäubchen Guano ins Auge geflogen. (1)


Dieser sehr bildhaften Passage, in welcher die Sprache die sonst praktizierte Bild-Text-Kombination ganz in sich aufgenommen zu haben scheint, ist deutlich das Bemühen anzumerken, die Gewichte präzise auszubalancieren, und die aufwertenden und die abwertenden Argumente im Gleichgewicht zu halten. Der Autor der Bildergeschichte präsentiert sich einerseits als Handwerker, verwahrt sich aber gegen die Einschüchterungen eines "Ästhetikers", den die Überzüchtung der eigenen Produkte ("Guano" ist ein aus Vogelkot gewonnenes Düngermittel) um sein Augenmass gebracht hat.

In vergleichbarer Weise bestimmt Rodolphe Töpffer in seinem geistreichen Essai de physiognomonie (2) den Zwischenort der von ihm praktizierten "littérature en estampes". Töpffer geht davon aus, dass dieses Genre weder viel Kenntnis noch besondere Fertigkeiten erfordere. Das zur Reproduktion angewandte Verfahren der Autographie sei leicht zu handhaben. Allerdings sei es etwas grobschlächtig und verfüge – anders als traditionelle Reproduktionstechniken wie etwa die Radierung – über keinerlei künstlerischen Nimbus, werde es doch hauptsächlich zur Vervielfältigung von Zirkularen verwendet. (3) Im weiteren Verlauf seiner sehr detaillierten Darlegungen gibt Töpffer dann jedoch sehr deutlich zu erkennen, mit welch ausgeklügelten und nuancierten Verfahren er bei seinen Bildergeschichten zu Werke geht. Der handwerkliche Zug der Arbeit, den Busch in der Metaphorik hervorstreicht, wird von Töpffer dabei ganz konkret vor Augen geführt.
Das Wirkungsfeld, das Töpffer und Busch sich erschlossen, ist somit, genau wie Bertholds Architekturmalerei, ein Zwischenort in doppeltem Sinn: in werthierarchischer Hinsicht zwischen hoher Kunst und Kunsthandwerk und in medialer Hinsicht zwischen zwei Künsten.

Dabei entwickelten sich Töpffer und Busch nicht nur ein ihnen persönlich angemessenes Ausdrucksmittel, sondern trugen zu der Kreation eines Genres bei, das im zwanzigsten Jahrhundert grösste Verbreitung finden sollte. Töpffer gilt heute als Erfinder der "Bande dessinée", in deren weiteren Frühgeschichte Busch zu einem entscheidenden Impulsgeber wurde. (4) (Ob Busch von Töpffer in substantieller Weise beeinflusst wurde, ist eine Streitfrage, die hier nicht erörtert werden soll. Busch-Kenner neigen dazu, sie zu verneinen, was damit zusammenhängen mag, dass ihnen der so gänzlich anders geartete *Humor des Genfers oft fremd ist. (5))

Dabei ist in den Bildergeschichten Töpffers und Buschs das Mischungsverhältnis von Literatur und bildender Kunst ein unterschiedliches. Dass für Töpffer das Bild das Primäre ist, wird von der Tatsache illustriert, dass seine Alben einschliesslich der handgeschriebenen Texte insgesamt autographiert, d.h. lithographiert sind, wogegen die Verwendung des Buchdrucks als Grundverfahren für die Reprodunktion von Buschs Bildergeschichten auf die Dominanz des Textes hindeutet.

Von Rodolphe Töpffer und Wilhelm Busch gibt es je ein Werk, dem ein künstlerisches Scheitern, wie es in den Biographien der beiden Künstler der Ausarbeitung des neuen Genres vorausging, zur Darstellung gebracht wird. In der ihnen gemeinsamen, wenn auch ganz unterschiedlich gelagerten humoristischen Manier scheinen die beiden Künstler-Schriftsteller so je auf die eigene Biographie reagiert zu haben. Töpffer publizierte 1840 ein 1831 entworfenes Album, dessen Titelheld, Monsieur Pencil, Landschaftsmaler ist. (6) Zu Beginn der Geschichte ist dieser dabei, eine Zeichnung, die er in und nach der Natur angefertigt hat, zu begutachten. Ein aufkommender Wind trägt das Blatt davon und setzt eine abenteuerliche Folge von Missgeschicken und Verwicklungen in Gang, die Monsieur Pencil nicht mehr zu seiner Arbeit als Künstler zurückkehren lässt. Wilhelm Buschs letzte vollende Bildergeschichte, Maler Klecksel (7), teilt mit dem Töpfferschen Album die Vorliebe für tumultuöse, slapstickhafte Szenen. Doch sind diese nicht in einer atemlosen Folge miteinander verkettet, sondern markieren Schlüsselmomente einer Lebensgeschichte, die als eine Art Bildungsroman in parodistischem Kleinformat das gesamte Leben seines Protagonisten von der Kindheit über das Kunststudium bis hin zum Übertritt vom Maler- zum Wirtsberuf umspannt.

In der nachfolgenden Konfrontation von Monsieur Pencil und Maler Klecksel richte ich meine Aufmerksamkeit auf die ganz und gar unterschiedliche Art, in welcher in den beiden Bildergeschichten dieses Vom-Weg-Abkommen eines Malers zur Darstellung gebracht wird. Dabei soll nach der Möglichkeit Ausschau gehalten werden, aus diesen Malergeschichten direkte oder indirekte Aufschlüsse über das Rollenverständnis und die Arbeitsmaximen ihrer Verfasser zu gewinnen, die hier in dem Zwischenbereich zwischen Literatur und Poesie agieren.


II.

Töpffers Geschichte beginnt in dem Augenblick, in dem der Titelheld – "qui est artiste" – eine Naturstudie vollendet. Es scheint sich dabei um eine Zeichnung zu handeln, denn der Künstler hält keinen Pinsel in der Hand, sondern einen Stift – unentscheidbar, ob es sich um einen Bleistift handelt (was der Name Pencil zu suggerieren scheint) oder um eine Feder, wie sie derjenige führt, der das alles zeichnet. Die Tatsache, dass es sich aber um eine auf Papier ausgeführte Arbeit handelt, parallelisiert Töpffers und Pencils Zeichnungen. Wie zur Bestätigung dieser Parallelität wird die Zeichnung des Baumes zur Begutachtung auf den Ast eben dieses Baumes gestellt.





Diese Selbstbezüglichkeit findet in der Reaktion des Künstlers eine Entsprechung. Mit der gleichen verzückten Miene, mit der Monsieur Pencil in die "belle nature" blickte, besieht er jetzt das fertige Abbild dieser "belle nature". Er gefällt sich in der Pose des zufriedenen Schöpfers, was Töpffer meisterhaft durch die Anspielung auf das biblische "und Gott sah, dass es gut war" zum Ausdruck bringt, das ebenfalls mehrmals wiederholt wird, allerdings nicht, wie bei Töpffer, in Bezug auf das stets gleiche Schöpfungswerk. Die Wiederholung bzw. die Multiplikation, die hier eingesetzt wird, ist ein Lieblingsinstrument Töpffers zur Erzeugung komischer Wirkung: in der Geschichte von Monsieur Crépin, dem geplagten Vater von nicht weniger als elf gleichaltrigen Söhnen, wird das Darstellungsverfahren wirkungsvoll ins Inhaltliche verlagert.





Der Bildergeschichte ist die Wiederholung deshalb schon grundsätzlich inhärent, weil sie den Zeichner in Ermangelung pronominaler Verfahren, wie sie in Texten existieren, dazu zwingt, die Akteure einer fortlaufenden Handlung immer wieder neu und doch mit bestimmten, die Identifikation gewährleistenden, gleichbleibenden Zügen darzustellen. Am Anfang von Monsieur Pencil wird das Wiederholungsprinzip aus der Sphäre des Bildes in die Sphäre des Textes übertragen. Die mehrfache Wiederholung der dem Namen des Protagonisten nachgeschobenen Präzisierung "qui est artiste" fällt nicht einfach semantisch ausser Betracht, weil sie bloss Redundanz erzeugen würde, sondern entfaltet eine ironische Wirkung, welche den beteuerten Tatbestand zweifelhaft werden lässt. Als Narrengestalt gibt sich Monsieur Pencil dann vollends dadurch zu erkennen, dass er seine Zeichnung wie eine abstrakte Komposition aus verschiedenen Blickwinkeln begutachtet und schliesslich – Töpffer hat eben selber das Blatt gewendet – auch die leere Rückseite in Augenschein nimmt.





Das Auftauchen der Berge im Hintergrund, die Pencil offenbar vorher im Rücken hatte, gibt zu erkennen, dass der Drehbewegung auch die Blickrichtung unterstellt wird.
Die mehrfache Selbstbezüglichkeit der Darstellung und die Selbstgefälligkeit des porträtierten Zeichners – Busch verwendet in seiner Autobiographie den Ausdruck "Selbstpläsier" – stehen in diesem Bilderbuch-Anfang in einer reizvollen Analogie zueinander. Pencil steht mit seiner Selbstzufriedenheit in eklatantem Kontrast zum Bild des Kunsttitanen, der mit seinem Werk in geradezu selbstzerstörerischer Weise ringt. Balzac hatte in seiner Erzählung Le chef d'oeuvre inconnu von 1831, dem Entstehungsjahr von Monsieur Pencil, ein solches Kunststreben in seinen halb tragischen, halb lächerlichen Exzessen dagestellt. Monsieur Pencil scheint die überhitzte Atelierluft von Balzacs verrücktem Malergenie noch fremd zu sein. Er lebt in der galanten Welt des 18. Jahrhunderts, in die nun ein Zephir-Püttchen einen leichten Wind hineinzublasen beginnt. (8) Dass dieses Pneuma in dem Augenblick zu wirken anfängt, in dem die Zeichnung für vollendet erklärt wird, mag als zusätzliche Anzweiflung von Pencils Kunstvermögen aufgefasst werden. Es musste offenbar ohne die Inspiration auskommen, zu deren Symbolisierung das Blasen des Zephir-Püttchens dienen könnte. Vom selbstgenügsamen Monsieur Pencil für sein Werk nicht in Anspruch genommen, treibt das Püttchen mit diesem seinen Schabernack, bläst ihm die Mütze vom Kopf und entwendet ihm dann auch die Zeichnung.
Damit beginnt nun aber Töpffers Bildergeschichte in Gang zu kommen. Der Wind sorgt für Handlung, lässt Bewegung in das statische Tableau des Landschaftsmalers hineinfahren: die Zeit beginnt zu laufen.





Der Verdacht, dass damit nicht einfach nur eine von Töpffers Bildergeschichten ihren Anfang nimmt, sondern gleichzeitig auch veranschaulicht wird, wie sich die Bildergeschichte als Genre formiert, wird durch eine Passage aus dem schon erwähnten Essai de physiognomonie bestätigt:


Seulement, le trait graphique, à cause de sa rapide commodité, des ses riches indications, de ses hasards heureux et imprévus, est admirablement fécondant pour l'invention. L'on pourrait dire qu'à lui tout seul il met à la voile et souffle dans les voiles. (9)


Der Federstrich, aus dessen erstarrter Spur sich die Einzelzeichnung erbaut, kann so gleichsam die Zeitdimension, die ihm von seiner Entstehung her noch inhärent ist, ausleben und von Feld zu Feld, von Blatt zu Blatt ein zeitliches Kontinuum erschaffen, in dem *Raum und Zeit, die Lessing als die Hoheitsgebiete von zwei ungleichen Künsten noch streng getrennt wissen wollte, gleichermassen und im Zusammenspiel zu ihrem Recht kommen. Die Herkunft aus den illustrierten Berichten, in denen die von Töpffer als Erzieher mit seinen Zöglingen unternommenen Ausflüge dokumentiert wurden, ist den Bildergeschichten so noch anzumerken.

Wenn man in der Darstellung von Monsieur Pencils Landschaftsmaleridylle einen Reflex auf den angeblich durch ein Augenleiden erzwungenen Abfall Rodolphe Töpffers von der Landschaftsmalerei sehen will, so fällt auf, dass darin jedes Pathos fehlt. Dieser wird – anders als im Grünen Heinrich der Abfall Kellers von der Malerei – in eine Fiktion hinübergespiegelt, der diesem Vorgang nichts Gravierendes anhaften lässt. Die Art, wie Pencil sein Künstlertum verkörpert, sorgt dafür, dass keine Trauer über den Verlust aufkommt. Das Zufällige des Vorgangs verunmöglicht aber ebenso, dass der Abbruch der Arbeit zum Akt der Weisheit emporstilisiert wird. Was mit dem Emporfliegen von Pencils Zeichnung beginnt, ist eine Abfolge von immer unglaublichereren Vor- und Zufällen, in welche mehr und mehr Personen verwickelt werden, bis schliesslich auch das Telegrafennetz verrückt zu spielen beginnt und die buchstäblich aus der Luft gegriffene Nachricht von einer herannahenden Choleraepidemie in Umlauf setzt. Es gibt keine Verschnaufpause und keine Zäsur – Zephir bläst unermüdlich fort. Damit erweist sich die Zeit zum Hauptakteur des Geschehens. Sie verläuft linear, bis das Album gefüllt ist, die Handlung wieder in sich zusammenfällt und auf der letzten Seite konstatiert werden kann: "[...] et les affaires de l'Europe se tranquillisent."(S. 72) Die Figuren, die in den Strudel des Geschehens gezogen werden, wissen nicht, was ihnen geschieht. Aus der Unangemessenheit und Hilflosigkeit ihrer Reaktionen bezieht die Bildergeschichte ihre Komik. Was den Figuren widerfährt, ist ihnen genau so äusserlich wie Monsieur Pencil der Wind, und so liegt es ihnen auch fern, es als Erfahrung abzubuchen. Sie lernen nichts dazu, verharren in ihren Ticks, welche ihnen anhaften wie ihre unveränderliche Physiognomie. Dabei wird erahnbar, dass das unerbittliche Fortschreiten der Zeit, dessen freundliches Puttengesicht rasch vergessen ist, offenbar zum Signalement der modernen Zeit gehört.

Das Missgeschick des Landschaftsmalers ist desto rascher vergessen, als Monsieur Pencil auch nur zufällig der Titelheld und ein Akteur unter vielen ist. Hält man dennoch daran fest, seine Geschichte als Reflex auf die Künstlerkarriere seines Schöpfers zu lesen, müsste daraus wohl der Schluss gezogen werden, dass Töpffer den Abfall von der Landschaftsmalerei nicht als eine Umwälzung in seiner Biographie verstanden wissen wollte, sondern als eine eher zufällige Wendung. Angesichts der technischen Umwälzungen, deren absurde Konsequenzen die Geschichte vor Augen führt, mag dem "Selbstpläsier" des Landschaftsmalers ohnehin etwas Anachronistisches anhaften.

Es soll hier dahingestellt bleiben, ob dieser Eindruck auch der biographischen Wahrheit entsprach und Töpffer tatsächlich in so entspannter Weise auf diese Abkehr von den ursprünglichen Plänen zurückzublicken wusste. Was feststeht ist die Tatsache, dass Töpffer das Thema des scheiternden Künstlers, das im 19. Jahrhundert oft als Einfallstor für grosses Pathos diente, hier mit sehr leichter Hand berührt. Es wird eine Nonchalance an den Tag gelegt, der ganz augenfällig auch im Duktus der Zeichnungen Ausdruck verliehen wird, die auf akademische Ausgefeiltheit verzichten, obwohl diese Töpffer durchaus zu Gebote stand.


III.

Auch Wilhelm Busch geht in Maler Klecksel das Thema des scheiternden Künstlers von einer humorvollen Seite an. Von Nonchalance ist hier allerdings nicht viel zu spüren. Das Thema wird nicht nur am Rande berührt, sondern steht im Zentrum der Bildergeschichte: ihr Held wird schon im Titel als "Maler" vorgestellt und so lange mit diesem Beruf identifiziert, bis dieser endgültig als Irrtum entlarvt ist. Pencils Künstlertum wird zwar ebenso verlacht wie dasjenige Klecksels. Doch während sich Töpffer über einen persönlichen Tick mokiert, verhandelt der viel gestrengere und didaktischere Busch die Frage der öffentliche Geltung von Künstlern.
Dass Buschs Zugriff viel gezielter ist, verrät auch sein Zeichenstil, der fokussiert, isoliert und verknappt. Er verzichtet auf die vier Linien, die bei Töpffer die Bilder begrenzen und deutlich machen, dass da mehr oder weniger willkürlich ausgeschnitten wurde. Diese Behandlung der räumlichen Begrenzung hat in der Behandlung der Zeit darin ihre Entsprechung, dass Töpffers Handlung einen einzigen, zusammenhängenden Zeitraum ausfüllt, wogegen Busch sich die zeitliche Strukturierung vom Thema, der Lebensgeschichte seines Helden, vorgeben lässt, die anhand von ausgewählten Schlüsselereignissen zur Darstellung gebracht wird. Ein erstes Kapitel, das nicht mit der Erzählung anfängt, sondern den Charakter eines übergeordneten Vorwortes hat, und ein bilanzierender "Schluss" sind konzentrisch um diesen Themenschwerpunkt angeordnet.
Der selbstbezügliche Anfang Töpffers mit dem selbstgefälligen Maler findet bei Busch darin eine konträre Entsprechung, dass dessen noch nicht mit Bildern versehenes Einleitungskapitel mit einer Art Selbstanrufung der Sprache einsetzt. Das bestätigt die oben schon vorgebrachte These, dass für Buschs Bildergeschichte die Literatur, für diejenige Töpffers dagegen die bildende Kunst das Grundmedium darstellt. Danach verwendet Busch ebenfalls das Bild des in Fahrt kommenden Segelschiffes:


Das Reden tut dem Menschen gut;
Wenn man es nämlich selber tut;
[...]
Die Segelflotte der Gedanken,
Wie fröhlich fährt sie durch die Schranken
Der aufgesperrten Mundesschleuse
Bei gutem Winde auf die *Reise
Und steuert auf des Schalles Wellen
Nach den bekannten offnen Stellen
Am Kopfe in des Ohres Hafen
Der Menschen, die mitunter schlafen.


Der so auf die Reise geschickte erste Gedanke erreicht das inhaltliche Zentrum des ersten Kapitels, die Rezipienten, die philisterhaften Kunstadepten, denen die Kunst eine Frage des bürgerlichen Lebensstils ist. Aus der Sicht eines solchen Normalverbrauchers werden nun die angenehmen und die lästigen Seiten der verschiedenen Künste gegeneinander abgewogen. Die Genüsse der Malerei werden schliesslich als die unkompliziertesten gepriesen:


Wer weiß die Hallen und dergleichen
So welthistorisch zu bestreichen?
[...]
Wer liefert uns die Genresachen,
So rührend oder auch zum *Lachen?
Wer schuf die grünen Landschafts*bilder,
Die Wirtshaus- und die Wappenschilder?
Wer hat die Reihe deiner Väter
Seit tausend Jahren oder später
So meisterlich in Öl gesetzt?
Wer wird von allen hochgeschätzt?
Der Farbenkünstler! Und mit Grund!
Er macht uns diese Welt so bunt.


Was Busch in seinem ersten Kapitel exponiert, ist noch nicht der Titelheld, sondern jenes Durchschnittsbewusstsein eines bürgerlichen Kunstgeniessers, das Kuno Klecksel später seinen Berufswunsch und sein sehr vordergründiges Kunstverständnis soufflieren wird. Wenn es "Wirtshaus- und Wappenschilder" auf "Landschaftsbilder" reimt, wird nicht nur auf den Schluss der nachfolgenden Geschichte angespielt, sondern zu erkennen gegeben, wie unakademisch und unbekümmert der Blick ist, mit dem hier das Feld der Künste vermessen wird. Das Gerede über Kunst, das der Sprecher mit seinem Einleitungssatz thematisiert hat, scheint am Biertisch seinen Ursprung zu haben, dem das letzte Bild der Geschichte später gelten wird. Dies läuft auf eine Karikatur des "Kunstsachverständigen" hinaus, dem Busch im ersten Kapitel das Wort erteilt, ohne dass dazu auch schon eine Zeichnung nötig wäre. Dabei ist nicht zu übersehen, das im beschmunzelten hemdsärmeligen Umgang mit dem Feld der Künste auch die Voraussetzung dafür liegt, dass man sich mit populären Bildergeschichten über traditionelle Normen und Grenzziehungen hinwegzusetzen wagen kann. Insofern dient der Rollentext nicht nur der Denunziation einer kulinarischen Alltagsästhetik, sondern auch der Selbsdeklaration des Autors, der sich so indirekt über die Voraussetzungen seiner eigenen Arbeit vernehmen lässt: anders wäre auch gar nicht zu erklären, wieso am Anfang einer Malergeschichte so weit ausgeholt und das Nebeneinander der Künste besprochen wird. Wenn Busch den Ignoranten als Anwalt für die eigene Sache vorschickt, entspricht dies jener programmatischen Verkleinerungsgeste, welche für seine Aussagen über die Bildergeschichten typisch ist. Der autoreflexive Hintersinn bleibt allerdings versteckt, mündet der Prolog doch keineswegs in die Evokation eines Künstlerbildes, das dem Schöpfer der Bildergeschichten entsprechen würde:


Darum, o Jüngling, fasse Mut;
Setz auf den hohen Künstlerhut
Und wirf dich auf die Malerei;
Vielleicht verdienst du was dabei!


In konsequenter Realisierung dieses Ratschlages packt Klecksel seine Malerkarriere als das Anprobieren eines Kostüms, des "Künstlerhuts", an, durch das man ein Auskommen finden kann.
Wenn der Bericht von Klecksels Werdegang nun nach dem Stufenmodell einer traditionellen Malervita strukturiert wird, streicht das umso krasser die Vordergründigkeit der Motivation und das Fehlen einer wirklichen Berufung heraus. Es beginnt damit, das die ersten Talentspuren beim kleinen Kind verzeichnet werden:




Der Zorn des Lehrers Bötel über eine Karikatur wird als erneuter Talentnachweis ausgegeben. In einem kompromisslosen und selbstbewussten Brief teilt später der Jüngling seinem Vater den Entschluss mit, die Akademie zu besuchen, und bittet natürlich um finanzielle Unterstützung. Auf der Akademie zeichnet Klecksel nach antiken Skulpturen, wobei sich sein Eros einzumischen beginnt.


Der Alten ewig junge Götter –
[...]
Ergötzten Kuno unbeschreiblich;
Besonders, wenn die Götter weiblich.
Er ahmt sie nach in schwarzer Kreide.





Damit ist das Pygmalion-Thema angeschlagen, das vollends in einer Szene zum Tragen kommt, welche sich als Höhe- und als Umschlagspunkt von Klecksels Künstlerlaufbahn erweisen wird.









So lässt Busch seinem Helden die Erfüllung des Pygmaliontraums, in welchem aus dem Kunstwerk wahres Leben wird, zuteil werden. Dass die Frau aus Fleisch und Blut, die sich dabei der Leinwand entwindet, nicht viel mit dem Bildnis des Fräuleins von der Ach zu tun hat, das darauf zu sehen war, gibt zu verstehen, dass es in dieser Pygmalionszene nicht ganz mit rechten Dingen zugeht. Wenn die Belebungsszene – wie der Schlusskommentar des Kapitels vermeldet – als "Krisis" aufgefasst wird, entspricht dies allerdings wieder ganz pygmalionischer Tradition: das Ausüben des Künstlerberufs ist nach dem Erweckungsmoment – das zeichnet sich etwa schon in Rousseaus scène lyrique (10) ab – nicht mehr möglich. Klecksels Heirat mit seiner Galathea namens Susel ist der Anfang einer neuen Berufskarriere, bringt die Braut doch das väterliche Wirtshaus mit in die Ehe. So wird Kuno schliesslich, in Erfüllung des alten Kalauers, doch noch etwas Anständiges, nämlich Wirt. Diese Wandlung zum nützlichen Mitglied der Gesellschaft veranschaulicht das letzte Bild der Geschichte, das Klecksel in stolzer Pose inmitten seiner zufriedenen Gäste zeigt.







Es sind die einstigen Widersacher des Malers, die jetzt versöhnt am Tisch des Wirtes sitzen. Der Lehrer Bötel – "Der, seinerseits kein Kunstverehrer, / Mehr auf das Praktische beschränkt, / Dem Kuno seine Studien lenkt" – hat das letzte Wort und stilisiert dabei die zurückliegende Geschichte zu einem erfolgreichen Bildungsgang:


"Herr Schimmelwirt, ich kann wohl sagen:
Wär nicht die rechte Bildung da,
Wo wären wir? Jajajaja!!"


Damit wird nochmals das Verlaufsschema benannt, nach dessen Muster Klecksels Geschichte erzählt wird. An der idealistischen Vorstellung vom folgerichtigen stufenweisen Bildungsgang ist man – so Buschs kritische Diagnose – auch dann festzuhalten bereit, wenn sie sich vollständig entleert hat.


IV.

Wer erwarten würde, dass Töpffer und Busch ihren Künstlergestalten den Ausweg in jenen künstlerischen Zwischenbereich offen halten, in dem sie selber mit ihren Bildergeschichten produktiv werden konnten, verkennt den humoristisch-satirischen Charakter dieser Geschichten, die einen kritischen, karikierenden Umgang mit der Welt pflegt. Allerdings ist die Abwesenheit eines positiven Selbstbildes dieser Künstler nicht allein dem Genre zuzuschreiben. Insbesondere die nachromantische deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts tat sich – ganz anders als die romantische – schwer damit, das, was sie sich ästhetische vorgenommen hatte und auch zu leisten vermochte, im Wirken fiktionaler Künstlergestalten zu spiegeln. Gerhard Kaiser hat in diesem Zusammenhang von der "Leerstelle des Realismus" gesprochen.(11)
Monsieur Pencil und mehr noch Maler Klecksel führen die Verhaftung an obsolet gewordene Künstlerbilder vor Augen, welche immer noch wie Theaterkostüme zur Verfügung gehalten werden. Dass damit kein Staat mehr zu machen ist, lassen die beiden Bildergeschichten rasch erkennbar werden. So beschreiben sie immerhin das Defizit, das ihre Verfasser auf den Nebenpfad der Bildergeschichte führte. Die beiden Bildergeschichtenverfasser verraten uns nicht viel über ihr eigenes Tun, umso mehr aber über die Zeit, in der sie lebten und die sie formte. Dass Busch seine Geschichten mit Spieluhren vergleicht und der aus der Uhrenstadt Genf stammende Töpffer zeichnend förmlich dem Strom der Zeit aufsitzt, dürfte so nicht ein Zufall sein.



Anmerkungen:

1) Wilhelm Busch: Gesamtausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Friedrich Bohne. Bd. 4. Wiesbaden 1968, S. 151. (zurück)
2) Essai de physiognomonie. Par R. T.. Genève 1845. Abgedruckt in: Töpffer: L'invention de la bande dessinée. Textes réunis et présentés par Thierry Groensteen et Benoît Peeters. Paris 1994, S. 185-225. (zurück)
3) Ebd., Kp. 3. Das autographische Verfahren besteht darin, dass die Zeichnung oder die Schrift auf einem dünnen Papier ausgeführt wird. Von hier wird sie dann auf den Lithographiestein übertragen, von dem anschliessend die Abzüge gemacht werden können. Anders als bei der normalen Lithographie, bei welcher direkt auf dem Stein gearbeitet wird, erscheint das Endergebnis bei der Autographie nicht seitenverkehrt, was den Einsatz von Schrift erleichtert. (zurück)
4) Vgl. dazu: David Kunzle: The History of the comic strip: the Nineteenth Century. Berkeley, Los Angeles, Oxford 1990. Und: Töpffer: L'invention de la bande dessinée. (Anm. 2). (zurück)
5) Vgl. Gustav Sichelschmidt: Wilhelm Busch. Der Humorist der entzauberten Welt. Eine Biographie. Düsseldorf 1992, S. 219. Eine präzisere Umschreibung des Abstand zwischen Töpffer und Busch gibt Thierry Smolden in seinem Aufsatz Les attracteurs étranges de Wilhelm Busch. Siehe:http://www.arpla.univ-paris8.fr/sites/spoutnik/decembre/willem_busch.html (zurück)
6) Die nachfolgenden Abbildungen sind dem Nachdruck entnommen: Rodolphe Töpffer: Monsieur Crépin, Monsieur Pencil. Deux égarements de la science. Editions du Seuil 1996. (zurück)
7) Die nachfolgenden Abbildungen und Zitate aus Maler Klecksel sind der Ausgabe entnommen: Wilhelm Busch: Gesamtausgabe in vier Bänden. Bd. 4. (wie Anm. 1), S. 80-146. (zurück)
8) Vgl. zu dieser und anderen Einzelheiten der Pencil-Geschichte den Kommentar von Gisela Corleis: Die Bildergeschichten des Genfer Zeichners Rodolphe Töpffer (1799-1846) – ein Beitrag zur Entstehung der Bildergeschichte im 19. Jh. Diss. München 1973. (zurück)
9) Essai de physiognomonie (wie Anm. 2), Originalausgabe (1845), S. 14, Nachdruck (1994), S. 201. (zurück)
10) Jean-Jacques Rousseau: Pygmalion, Scène lyrique. In: Oeuvres complètes. Vol. 2. Edition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Bibl. de la Pléiade. Paris 1969, S. 1224-1231. (zurück)
11) Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt a. M 1981, S. 560-577. (zurück)



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Das erste Mal sah ich den in undurchsichtiger Weise aus Zürich importierten Privatdozenten, als ich Student in Bern war und er, noch mit einem dunkelbraunen *Bart, durch die Bibliothek des Deutschen Seminars eilte. Man munkelte, er habe ein unverständliches Buch über Jean Paul geschrieben. Später, in Zürich, war er für mich zuerst der Chef von Assitentenkolleginnen und -kollegen, dann der Professor, der eine vorzügliche Methoden*vorlesung hielt, dann der Mann von Yvonne Böhler und schliesslich der unverwechselbare *Michael Böhler....
Dominik Müller, geboren 1954 in Thun, studierte Deutsch und Geschichte in Bern und Wien, war dann Assistent in Genf und in Zürich. Seit 1998 maître d'enseignement et de recherche am Département de langue et de littérature allemandes der Universität Genf. Seit der Genfer Promotion über den Grünen Heinrich ist er nicht mehr von *Gottfried Keller weggekommen und arbeitet so auch an der Historisch-Kritischen Keller-Ausgabe mit. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt neben der Schweizer Literatur liegt bei dem Wechselverhältnis von Literatur und bildender Kunst.