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Ortstermin an einem Gedächtnisschauplatz: *Goethe und Heine in Verona

Für Michael *Böhler zum 60sten
mit Dank für die Zürcher Jahre und die Abstecher an den Genfer *See.


Sigrid Weigel



Im September 1786, vor 214 Jahren, brach der 37jährige Johann Wolfgang *Goethe bekanntlich zu einer längeren *Reise auf, um sich für eineinhalb Jahre den Weimarer Verpflichtungen zu entziehen. Sein Weg führte ihn von Karlsbad über München, den Brenner, Trient und den Gardasee nach Verona, das in gewisser Weise als erste Station seiner Italienreise gelten kann. Denn hier war er in jenem Land angekommen, mit dem er die Verheißung seiner Reise verband: die Tradition der standesüblichen Bildungsreise sollte durch ihn umgewandelt werden in das Projekt einer vollkommenen Erneuerung der eigenen Person, die er als eine Art rite de passage der Lebensreise in Szene setzte. Insofern ist die Landschaft Italiens in der "Italienischen Reise" immer schon als eine Topographie zu verstehen, denn die Reise als Bewegung durch fremde Orte ist darin mit der allegorischen Bedeutung der Lebensreise - als lebensgeschichtlicher (Um-) Weg der Reifung - symbolisch überblendet. Dabei war das Ziel der Reise weniger das zeitgenössische Italien als vielmehr der* imaginäre *Raum jener Antike, dessen Bild dem *Studium der Winkelmannschen Schriften entsprungen war. Mit der Geographie Italiens betrat Goethe also einen Bildraum, der den Namen der Antike trug und in dem er sich eine sinnliche Begegnung mit deren Kultur in naturam versprach. Bedeutete die Reise in das fremde Land ihm somit eher eine Reise in die vergangene Zeit, so war der damit betretene Bildraum doch längst mit *Bildern besetzt, die der Lektüre von Schriften, die der Bibliothek, dem Archiv und dem Museum entstammten.
Das Programm der Wiedergeburt, das die Darstellung der "Italienischen Reise" dominiert, kann dabei betrachtet werden als eine *Subjektivierung und Individualisierung des von Winkelmann in seinen "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" (1755) formulierten Bildungsziels, sich auf dem Wege der Nachahmung der Griechen als 'Original‘ zu schaffen: "Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten." Rom bildet für dieses Unterfangen nicht nur Vorbild und Vorlage, es stellt zugleich die historische und topographische Mitte zwischen der griechischen Antike und der sächsischen Gegenwart dar, - in der Goethe gegenüber dem Modell seines Vorläufers lediglich Weimar gegen Dresden eingetauscht hat. Hatte Winkelmann noch stolz verkündet, "und Dresden wird nunmehro Athen für die Künstler", so wird Goethe, von der Römischen Reise zurückgekehrt, nicht nur Weimar zum deutschen Kunst- und Museumszentrum auszubauen suchen, sondern diesen Ort auch als Eingangshalle in die Kunst des Altertums bezeichnen und inszenieren, was er symbolisch im Titel der 1798 gegründeten Kunstzeitschrift "Propyläen" zum Ausdruck bringt.

Doch zunächst muß er, um sich als Nachfahre Winkelmanns zu positionieren, ihm buchstäblich nachfahren. In diesem Unternehmen verkehrt sich das Verhältnis von *Fremde und Kunst gegenüber der Winkelmannschen Schrift, die die Fremde als *Metapher für die Kunst eingeführt hatte: dank der Initiativen des Sächsischen Hofes - Winkelmann nennt August den Starken - seien "die Künste, als eine fremde Kolonie, in Sachsen eingeführt worden." Während durch die Winkelmannsche Metapher, mit der der Dresdner Kunstsammlung die Bedeutung einer 'geistigen‘ Athen-Reise vor Ort zugeschrieben wird, der in Besitz genommenen griechischen Antike noch Spuren ihrer fremden (orientalischen) Herkunft anhaften, bedeutet der Aufbruch seines Nachfolgers Goethe in die Fremde das leibhaftige Betreten der fremden Kolonie. Diese wird in Goethes "Italienischer Reise" als Naturlandschaft der antiken Kunst verstanden, die er be*reisen muß, um sich darin zu bilden und hernach eine vollkommenere Antike in Sachsen heimisch machen zu können. Auf den Spuren des Vorgängers folgt er den Spuren der antiken Kultur:


"Vor ein und dreißig Jahren, in derselben Jahreszeit kam er, ein noch ärmerer Narr als ich, hierher, ihm war es auch so deutsch Ernst um das Gründliche und Sichre der Altertümer und der Kunst. Wie brav und gut arbeitete er sich durch! Und was ist mir nun aber auch das Andenken dieses Mannes auf diesem Platze!" (Rom, 13. Dezember)


Das Andenken des Vorläufers erscheint hier in Form der Einnahme seines Platzes, als eine leibhaftige Nachahmung vor Ort also. Es ist die Stadt Rom, in der Goethes Ortstermin Antike stattfindet und die damit auch die Stätte der ersehnten Wiedergeburt darstellt: "Die Wiedergeburt, die mich von innen heraus umarbeitet, wirkt immer fort." Der Satz, der dieser Feststellung vorausgeht, "Und doch ist das alles mehr Mühe und Sorge als Genuß," spricht von den Anstrengungen und der Bemühtheit, die dem ganzen Unternehmen von Anbeginn deutlich anhaften.

Dabei sind diese Anstrengungen nicht allein durch die recht bald sich einstellende Einsicht geprägt, wie schwierig es ist, sich 'aus dem gegenwärtigen Italien die Kunst der Alten herauszuklauben‘, und durch die Mühe, sich die Gegenwart so gut es geht auf Distanz bzw. vom Leibe zu halten. Der Genuß ist auch dadurch getrübt, daß Goethe der sehnsuchtsvoll gesuchten Antike in Italien bereits in der Form von konservierten, archivierten , oft beschrifteten Überresten begegnet. In ihnen ist die Arbeit der Zeit an den Dingen weitgehend stillgestellt, um letztere als Monumente und Dokumente der vergangenen Kultur zu bewahren. Die Sammlung mit griechischen und römischen Grabsteinen und -reliefs beispielsweise, die Goethe am 16. September 1786 im Artrium des Maffei-Theaters in Verona ohne großen Enthusiasmus anschaut, liest sich wie eine paradigmatische Szene, die vom vergeblichen Versuch einer Wiederbelebung der Antike am Ort der gesammelten, ausgestellten Überreste ihrer Kultur zeugt:


"Hier hat man die Antiquitäten, meist in und um Verona gegraben, gesammelt aufgestellt. (...) Die Basreliefs sind in die Wände eingemauert und mit den Nummern versehen, die ihnen Maffei gab, als er sie in seinem Werke Verona illustrata beschrieb. Altäre, Stücke von Säulen und dergleichen Reste. (...) Der Wind, der von den Gräbern der Alten herweht, kommt mit Wohlgerüchen [wie] über einen Rosenhügel. Die Grabmäler sind herzlich und rührend und stellen immer das Leben her. (...) Mir war die unmittelbare Gegenwart dieser Steine höchst rührend." (58)


Greift der Autor der Italienischen Reise beim Versuch, das Antikenarchiv zu beleben, hier auf ein stereotypes Sprachbild zurück - die Metapher vom Wind, der die Herkunft der Überreste aus ferner Vergangenheit anzeigt -, so ist die Verwechslung von Darstellung und Herstellung - die Grabmäler, die das Leben herstellen, - an eine signifikante Verschiebung in der Formel von der unmittelbaren Gegenwart der Steine geknüpft. Der Wunsch nach einer Unmittelbarkeit zur Vergangenheit wird in der zitierten Passage auf die Grabsteine verschoben: "die unmittelbare Gegenwart dieser Steine". Anstatt als *Erinnerungsmale der abwesenden Körper der Toten werden die antiken Grabmale folglich auch als deren Repräsentanten begriffen. Bei der Betrachtung der Nachbildungen der Verstorbenen auf den alten Gräbern verfehlt Goethe nämlich die darin ablesbare Genese des (Ab)Bildes aus dem Totenkult. Mit der Hervorhebung ihrer angeblichen "Natürlichkeit" und Lebensähnlichkeit, ein Urteil, das nicht ohne Einfluß auf die archäologische Fachliteratur geblieben ist, und mit der Inszenierung einer unmittelbaren Gegenwart zu den Alten verkennt er vielmehr eine zweifache Abwesenheit bzw. Differenz: (1) die Absenz der Toten im Grabbild und (2) die Entfernung der Grabsteine von den Ruhestätten der Toten, wodurch die Sammlung allererst zustande kommen konnte. Im ersten "Venezianischen Epigramm" wird Goethe dies als Sieg der Lebensfülle über den Tod feiern: "Sarkophagen und Urnen verzierte der Heide mit Leben .(...) So überwältiget Fülle den Tod."

In dieser Betrachtung der Grabmäler kommt die vollständige Verkennung der Charakteristik und Voraussetzung eines musealen Ortes zum Ausdruck, der mit der authentischen Stätte der Toten und den Zeichen des Gedenkens an sie ja gerade nicht identisch ist. Es zeigt sich darin eine grundlegende Mißachtung der Differenz zwischen gebauten, musealen Orten und den Spuren der vergangenen Kultur auf den Stätten, die einst von den Verstorbenen belebt wurden.

Im Verlaufe von Goethes Gängen durch eine auf die Landkarte Italiens projizierte Bildergalerie führt diese Haltung zu einer für die "Italienische Reise" charakteristischen Diskrepanz zwischen den Gegenständen der Betrachtung und der Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird. Diese Diskrepanz zwingt den Autor, die leeren Grabmale der Antike gleichsam mit eigenen Bildern auszufüllen. Entweder geschieht das, wie in der eben besprochenen Szene im Museo Maffei, im Gestus der Rührung, die in Walter Benjamins philosophischer Kunstkritik als "Schein der Versöhnung" bzw. "trügerische Harmonie" gedeutet wird, oder aber es geschieht im Muster des Erhabenen, unter dessen Regie die Leere mit einem Phantasma von Einheit und Größe gefüllt wird, wie in der im Text unmittelbar vorausgehenden Szene im Amphitheater in Verona. Als erste Begegnung mit einem "bedeutenden Monument der alten Zeit" wird in ihr die genannte symbolische Bearbeitungsweise in nuce deutlich:


"Als ich hinein trat, mehr noch aber, als ich oben auf dem Rande umher ging, schien es mir seltsam, etwas großes und doch eigentlich nichts zu sehen. Auch will es leer nicht gesehen sein, sondern ganz voll von Menschen, wie man es neuerer Zeit (...) veranstaltet. (...) Doch nur in der frühesten Zeit tat es seine ganze Wirkung, da das Volk noch mehr Volk war als es jetzt ist. Denn eigentlich ist so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum besten zu haben."


Nach Betreten des "bedeutenden Monuments" stellt sich zunächst eine Irritation ein, die der Unstimmigkeit zwischen der ihm zugeschriebenen Größe und dem gesehenen 'Nichts‘ geschuldet ist. Sie wird bearbeitet, indem das Bauwerk vor Augen mit einer Vorstellung vom Volk gefüllt wird, die über jenes gegenwärtige Volk hinausgeht, das die Arena als Masse anzufüllen in der Lage wäre. Mit dem "Volk, das noch mehr Volk war", kommt ein Begriff von Größe ins *Spiel , der einer Idee der Antike, nicht aber der konkreten Anschauung entspringt. Von dort ausgehend entwickelt Goethe dann den Gründungsmythos eines antiken Monuments, dessen Genese als Kunstwerk er gleichsam als Ergebnis einer naturgesetzlichen Entstehung beschreibt, wenn er den Bau einer Kraterform aus der allgemeinen Schaulust der Menschen und dessen Nachbau durch den Architekten als Ursprung der Kunst erklärt. Und diese Kunst dann ist es, der sich die Verwandlung der wilden Natur in die Gestalt einer Idee, die Transformation des heterogenen, monströsen Massenleibes in eine Einheit verdankt. Durch sie verwandelt sich der Körper des Volkes in einen Volkskörper, in die Verkörperung einer Idee antiker Größe.


"Er (der Architekt, S.W.) bereitet einen solchen Krater durch Kunst, so einfach als nur möglich, damit dessen Zierat das Volk selbst werde. Wenn es sich so beisammen sah, mußte es über sich selbst erstaunen, denn da es sonst nur gewohnt, sich durch einander laufen zu sehen, sich in einem Gewühle ohne Ordnung und sonderliche Zucht zu finden, so sieht das vielköpfige, vielsinnige, schwankende hin und her irrende Tier, sich zu einem edlen Körper vereinigt, zu einer Einheit bestimmt, in eine Masse verbunden und befestigt, als Eine Gestalt, von Einem Geiste belebt."


Bei dem Versuch, die seltsam anmutende Leere vor Augen mit einem Bild zu füllen, muß die Vorstellung vom Volk also von einem heterogenen, monströsen, vielgestaltgien Körper, dem leibhaftigen Volk im Plural, in ein Bild von Einheit, eine ideelle Ganzheit, in einen Geist verwandelt werden. Damit zeigt die Szene in klassischer Manier die Konstitution jener* imaginären Struktur (Lacan), die die "Italienische Reise" als Ganzes prägt.

Bekanntlich hat Goethe seine Aufzeichnungen und Briefe erst dreißig Jahre nach der tatsächlichen Reise in eine Buchform gebracht und publiziert. Auf diese Weise wurde der Generationenabstand, der seine Italienreise von der seines Vorgängers trennte, für sein literarisches Werk über die Römische Wiedergeburt auf zwei Generationen verdoppelt. Derjenige Autor dagegen, der in der Folge dann Goethes Reiseweg nachahmte, nahm sich sehr viel weniger Zeit. Zwölf Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Ausgabe der "Italienischen Reise" (1816/17) erschienen im "Morgenblatt für gebildete Stände" Reisebeschreibungen Heinrich Heines, zunächst unter den Titeln "Reise nach Italien" (1828) und "Italienische Fragmente" (1829). In der anschließenden Buchform wurden dieselben Texte unter dem Titel "Reise*bilder 3: Reise von München nach Genua" (1830) publiziert. Die Tilgung der Anspielung auf den Autor der "Italienischen Reise", die mit der Titeländerung verbunden war, wird im Buch durch ein Motto aus dem "West-östlichen Divan" ersetzt: "Hafis auch und Ulrich Hutten/ Mußten ganz bestimmt sich rüsten/ Wider braun und blaue Kutten,/ Meine gehn wie andre Christen. Goethe".

Bis nach Verona hält Heine sich an die Goethesche Reiseroute, um dann - anstatt ihr weiter nach Vicenza und Venedig zu folgen - in die andere Richtung abzubiegen und - auf dem Wege über Mailand, Marengo und Genua - den Spuren eines "andern Titanen" zu folgen, denen Napoleon Bonapartes. Doch auch im ersten Teil, in dem er dem Weimarer nachreist, positioniert der reisende und schreibende Heine sich nicht als dessen Nachfahre. Vielmehr ließe sich die von ihm praktizierte Nachahmung mit Harold Bloom als misreading beschreiben. In der Spannung von Nachfahren und Richtungsänderung, von Nachahmung und Abweichung entsteht dabei eine buchstäbliche "Topographie des Fehllesens", in der Heinrich Heine sich als starker Leser Goethes zu erkennen gibt. Starke Leser sind nach Bloom solche schreibenden Nachfolger, die nicht der Einflußangst erliegen, sondern in einer eigenwilligen, gleichsam entstellten Nachahmung für sich einen eigenen Rang in der Tradition und einen genuinen Platz im *Familienroman der Literaturgeschichte beanspruchen und einnehmen.

In dieser starken Lektüre bearbeitet Heine die Verfehlungen des Schauplatzes durch Goethe, um auf diese Weise die Arena in Verona als Schauplatz des Gedächtnisses reinszenieren zu können. In seiner Beschreibung wird das Amphitheater zunächst als Symbol von Rom eingeführt und erörtert, als Monument, das den in dauerhaften Stein verwandelten "Geist von Rom" repräsentiert, um den Ort dann beim Betreten des Bauwerks mit den Geistern der römischen Geschichte zu beleben. Geleitet von den Erregungen, die sich an die Erinnerung des römischen Imperiums heften, werden am Ort von dessen vergangener Macht die Stimmen der Verstorbenen hörbar. Die Szene beginnt mit Betrachtungen über das Amphitheater von Verona,


"dessen Schönheit in der vollendeten Solidität besteht und, wie alle öffentliche Gebäude der Römer, einen Geist ausspricht, der nichts anders ist als der Geist von Rom. Und Rom? Wer ist so gesund unwissend, daß nicht heimlich bei diesem Namen sein Herz erbebte, und nicht wenigstens eine traditionelle Furcht seine Denkkraft aufrüttelte? Was mich betrifft, so gestehe ich, daß mein Gefühl mehr Angst als Freude enthielt, wenn ich daran dachte, bald umherzuwandeln auf dem Boden der alten Roma. Die alte Roma ist ja jetzt tot, beschwichtigte ich die zagende Seele, und du hast die Freude, ihre schöne Leiche ganz ohne Gefahr zu betrachten. Aber dann stieg wieder das Falstaffsche Bedenken in mir auf: wenn sie aber doch nicht ganz tot wäre, und sich nur verstellt hätte, und sie stände plötzlich wieder auf - es wäre entsetzlich!"


Zwischen dem "Geist von Rom" und dem "Boden der alten Roma" tut sich für den Betrachter ein Abgrund auf, der mit dem Unabschließbaren der Geschichte zu tun hat und mit dem Wissen darum, daß auch die Gegenwart nicht sicher sein kann vor der möglichen Wiederkehr einer (römischen) Tyrannis. Doch scheinen die Stadtbewohner von dieser Gefahr nichts zu ahnen, denn man spielt dort "just Komödie". Und aus der Gegenwart einer harmlosen Theaterszene, die dem zeitgenössischen Gebrauch des Bauwerks entspricht, vergegenwärtigt der Betrachter in Heines Italienischer Reise die tödlichen Inszenierungen, die einst in derselben Arena stattfanden:


"Das saß ich nun und sah Brighellas und Tartaglias Spiegelfechtereien auf derselben Stelle, wo der Römer einst saß und seinen Gladiatoren und Tierhetzen zusah. Der Himmel über mir, die blaue Kristallschale, war noch derselbe wie damals. (...) Das Volk klatschte Beifall und zog jubelnd von dannen. Das ganze Spiel hatte keinen Tropfen Blut gekostet. Es war nur ein Spiel. Die Spiele der Römer hingegen waren keine Spiele".


In Heines Arena-Szene wird das Vor-Ort-Sein als Möglichkeitsbedingung eines Zurücksinnens in die Vergangenheit genutzt. Die besondere Qualität der Konstellation liegt darin, daß sie den Abstand der Zeit, die Distanz zum Gewesenen, mit der Unmittelbarkeit zum Schauplatz kombiniert: "Da saß ich nun (...) auf derselben Stelle, wo der Römer einst saß". Vor Ort generiert die Verschiebung der Ferne in die Dimension der Zeit eine Veränderung von Wahrnehmung und Blick; durch sie werden Bilder der Vergangenheit evoziert, die mit 'Jetztzeit‘ (Benjamin) geladen sind. Anstatt dem Mythos von der Authentizität konkreter Anschauung und einer möglichen Wiederbelebung bzw. Verlebendigung des Schauplatzes zu folgen, entwirft Heine die Vision einer möglichen oder vielmehr einer drohenden Wiederauferstehung, in der die im Bild der schönen Leiche stillgestellten Momente der Geschichte wiederkehren könnten. Mit Bezug auf die Allegorie der Roma wird die Rede von der Schönheit Roms, die Nachruhm und Nachgeschichte der römischen Antike beherrscht, wörtlich genommen, um auf die in der Verkörperung verborgenen Spuren der Gewalt zu verweisen. Die gemischten Gefühle, die diese Betrachtungen begleiten, rühren von der Furcht, daß bei einer Wiederauferstehung der schönen Leiche womöglich ihre entsetzliche Kehrseite zutage käme. Mit dieser Vorstellung der Wiederauferstehung einer Untoten thematisiert Heine die gespenstischen Momente im schönen Nachleben einer großen Idee. Diesem gespenstischen Charakter der Wiederbelebung entspricht die Schlußpassage seiner Arena-Szene, in der die Mauern zu ihm von den "Männern des alten Rom" sprechen und die Betrachtungen des Erzählers in einen Dialog mit den Geistern der römischen Vergangenheit hinüberspielen.

Damit vollzieht Heines Darstellung eine zu Goethes Text in jeder Hinsicht genau umgekehrte Bewegung. Wo Goethe die Diskrepanz zwischen der symbolischen Bedeutung des Monuments - "etwas großes" - und der Anschauung - "und doch eigentlich nichts" - mit der nochmaligen Beschwörung einer Idee von Größe und Schönheit bearbeitet und die Arena mit dem 'Geist von Rom‘ zu bevölkern sucht, geht Heine vom Nachleben Roms aus, in dem das Bild von Schönheit und Größe die Spuren der Gewalt in der Geschichte verbirgt. Und wo Goethe das leibhaftige Volk in die Verkörperung einer Einheitsidee verwandeln muß, geht Heine vom untoten Status der Rom-Allegorie aus, um in der Vorstellung von deren Wiederauferstehung ihre gespenstischen Züge sichtbar werden zu lassen. Anstatt eine "vielköpfige" Gestalt in "Einen Geist" zu verwandeln, wird bei Heine aus dem 'Geist von Rom‘, der im Monument repräsentiert ist, eine vielstimmige, geisterhafte Rede freigesetzt, um damit den Ort in einen Schauplatz des Gedächtnisses zu verwandeln.

In Heines Texten ist die Haltung des Erzählers, die den Stimmen der Reste lauscht, Teil einer Praxis der Lektüre, in der die Spuren vergangener Kulturen aus den steinernen Überresten entziffert werden. "Wie alle Gebäude im Abendlichte ihren inwohnenden Geist am anschaulichsten offenbaren, so sprachen auch diese Mauern zu mir, in ihrem fragmentarischen Lapidarstil, tiefernste Dinge". So heißt es in der Arena-Szene, und wenig zuvor bei der Ankunft in der Stadt: "es will uns bedünken, als sei die Stadt eine große Völkerherberge, und gleich wie man in Wirtshäusern seinen Namen auf Wand und Fenster zu schreiben pflegt, so habe dort jedes Volk die Spuren seiner Anwesenheit zurückgelassen, freilich oft nicht in der leserlichsten Schrift". Die Unleserlichkeit bzw. Unentzifferbarkeit, die der Schrift des Vergangenen anhaftet, rührt - sofern sie sich nicht wie in der zitierten Passage, die auf das Werk "manch deutschen Stamms" anspielt, eher auf Spuren der Zerstörung als der Kultur bezieht - von den Wirkungen der Zeit. Durch sie ist die vergangene Kultur teils 'versunken‘, so daß sie nun als verborgener Text der Natur erscheint. Letzteres korrespondiert mit dem Bild der Grabung als Tätigkeit der Entzifferung, die Heine beispielsweise beim Blick auf verschüttete Orte thematisiert: "und Herkulaneum und Pompeji, jene Palimpseste der Natur, wo jetzt wieder der alte Steintext hervorgegraben wird". Mit Bezug auf das Text- und Lektüreparadigma transformiert Heine die immer schon symbolische Topographie der bereisten Landschaft in einen Gedächtnisschauplatz , wobei diese Verwandlung erst durch eine Haltung ermöglicht wird, die aus Neugier, Erregung und der Bearbeitung jener Empfindungen erwächst, die sich beim Ortstermin einstellen.

Die Untersuchung der Goetheschen und Heineschen Betrachtungen eines für das kulturelle Gedächtnis prominenten Ortes, des Amphitheaters in Verona, hat zeigen können, auf welche Weise unterschiedliche Verfahrensweisen vor Ort zu differenten Bedeutungen vom Gedächtnis der Orte führen. Diese sind auch in der gegenwärtigen theoretischen Diskussion virulent. Dabei gilt es nicht nur, das 'Gedächtnis der Orte‘ vom Konzept der 'Gedächtnisorte‘, der lieux de mémoire zu unterscheiden, sondern auch, die je verschiedene Bedeutung der Orte in unterschiedlichen Gedächtnistraditionen - wie beispielsweise der ars memoriae, einer Kultur des Gedenkens und dem Freudschen Gedächtnismodell - herauszuarbeiten. Das steht im Zusammenhang der Notwendigkeit, die Lektüre- und Textmetapher, die in ihrer universellen Verwendung in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften ihre Konturen zu verlieren droht, auf ihre Spezifik und ihre theoretische Stimmigkeit hin zu befragen.



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  Biografie







Sigrid Weigel, Jg. 1950, Direktorin des Zentrums für Literaturforschung und Vorsitzende der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin, Prof. an der TU Berlin. - 1998/99 Direktorin des Einstein Forums (Potsdam), 1992-1998 Prof. am Deutschen Seminar der Univ. Zürich, 1990-1993 Vorstandsmitglied des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, 1984-1990 Prof. am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Univ. Hamburg, Habil. 1986 Marburg, Dr. phil. 1977 Hamburg. - Jüngere Buchpublikationen: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses (1999), Entstellte Ähnlichkeit. Zur theoretischen Schreibweisen Walter Benjamins (1997), Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur (1994), Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Beiträge zur Literatur (1990).