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Autobiographische Notizen zu Michael *Böhler

Christian Lutz

Als nicht der Literaturwissenschaft Angehörender vermag ich weder zu ihr noch zu Michael *Böhlers wissenschaftlichem Arbeiten etwas Substantielles zu äussern. Die einzige Legitimation dieses Beitrags besteht darin, dass ich in der Jugendzeit das war, was man wohl in der Literatur einen «*Busenfreund» nennt. Später wurden die Begegnungen seltener, wie es eben so geht, wenn die Lebenswege ihren eigenen geographischen, beruflichen und familiären Verlauf nehmen, aber die gemeinsam durchschrittene Wegstrecke wirft bis heute zuweilen ihr Echo zurück auf mein heutiges Tun und Erleben. Wie weit *Michael Böhlers wissenschaftliche Arbeit ebenfalls von solchem Nachhall mitgeprägt ist, mögen andere beurteilen. Welche Relevanz Wechselwirkungen zwischen eigenem Erleben und Schaffen für die Literaturwissenschaft haben, schien mir jedenfalls eine für den Jubilaren zeitweilige wichtige Fragestellung zu sein. Es entzieht sich allerdings meiner Kenntnis, wo der Prozess der Antwortfindung heute steht, und infolgedessen muss ich es auch Berufeneren überlassen, über die Relevanz der folgenden biographischen Notizen zu befinden.

Wir lernten uns im Frühjahr 1955 in der Kantonsschule Schaffhausen kennen, wo wir aus zwei an entgegengesetzten Kantonsrändern gelegenen Bauerndörfern jeweils viel zu früh am Morgen mit dem Zug eintrafen und somit mehr als eine Stunde bis Schulbeginn mit Hausaufgaben und teils pubertär-philosophischen, teils nur pubertären Gesprächen verbrachten. Wir waren Beide aus der zweiten ländlichen Sekundarschulklasse in die zweite städtische Gymnasialklasse gelangt, und wir waren infolge eines bizarren Stadt-Land-Gefälles, aufgrund dessen ländlichen Schülern die Fähigkeit abgesprochen wurde, den Primarschulstoff wie die städtischen in fünf Jahren zu bewältigen, ein Jahr älter als unsere Klassenkameraden. Wir kamen zwar vom Land, waren aber keine Bauernkinder und deshalb in gewissem Masse bereits als Aussenseiter gross geworden (die ja bekanntermassen die Wahl haben, Elite oder Abschaum zu werden...). Da wir zum Mittagessen nicht nach Hause fahren konnten, kauften wir uns gemeinsam bei der Migros unser Picknick, übten dabei unseren Sinn für den optimalen Einsatz knapper Mittel für die Befriedigung grundsätzlich unbegrenzter Bedürfnisse – sozusagen als Vorgriff auf mein eigenes späteres Fach – und setzten dann unsere Gespräche fort. Dies Alles verband uns so sehr, dass wir auch im Pausenritual unzertrennlich waren; dieses bestand darin, dass wir, in Gespräche vertieft, endlose Runden um das ehrwürdige Gründerzeit-Schulhaus drehten – die Jungen in der einen und die Mädchen in der anderen Richtung, was den Gesprächen und der nonverbalen *Kommunikation einen ganz eigenen Reiz verlieh.

Wohl aufgrund unserer Aussenseiterstellung waren wir Beide exzellente Schüler, ständige Klassenprimi – «Lektoren», wie es altväterisch hiess –, was dazu beitrug, dass wir uns nicht unters «Pack» mischten, was uns aber merkwürdigerweise nicht unbeliebt machte, vermutlich weil wir keine streberische Verbissenheit an den Tag legten. Darauf konnten wir auch deshalb verzichten, weil uns nicht nur die Stunden am frühen Morgen einen unaufholbaren Vorsprung bescherten, sondern überdies noch jene, die unsere Kameraden beim Tennis, an nächtelangen Parties und in ihren Verbindungen verbrachten. Vermutlich wären wir in dieser Konstellation erbitterte Rivalen geworden, wenn wir nicht die Weisheit gehabt hätten, uns anlässlich der Wahl zwischen alt- und neusprachlicher Ausrichtung auf getrennte Wege zu begeben. So bleib uns die *Freundschaft erhalten und hielt auch kommenden zusätzlichen Divergenzen stand.

An dieser Stelle ist noch ein «zugewandter Ort» zu erwähnen, der sich unseren Pausenrunden oftmals zugesellte, wenn er nicht am Klavier beschäftigt war, an dem er bereit eine beachtliche Virtuosität entwickelt hatte. Er hiess denn auch allgemein «Beethoven» und war vielleicht ein Katalysator unserer gemeinsamen *musikalischen Interessen. Er gedachte, Pianist zu werden (und ist es, offenbar zu seinem Unglück, dann auch geworden), während ich damals – als Sohn eines Violinisten – entschlossen war, Kapellmeister zu werden, mich redlich abmühte mit meiner Violine und später am Klavier, komponierte – «Beethoven» führte sogar einmal ein Stück von mir öffentlich auf – und dirigierte: Mein Leben ausserhalb der Schule verbrachte ich zunehmend mit Chören und Laienorchestern, die ich mit grossem Ehrgeiz auf ein ernst zu nehmendes Niveau zu bringen suchte. Es war in diesem Kontext, dass sich erste Irritationen in meine freundschaftlichen Gefühle schlichen: Michael verlegte sich kurzerhand auf die *Querflöte – ein in meinen Augen nicht ernst zu nehmendes Instrument – und machte damit so rasante Fortschritte, dass er kurz darauf mit dem Schulorchester, in dem ich in der zweiten Geige mit knapper Not mithielt, das Flötensolo von Bachs h-moll-Suite blies. Da stiess sie mir zum ersten Mal auf: Die unerträgliche Leichtigkeit von Michael Böhlers Sein.

Das war aber nicht Alles: Im Unterschied zu mir, der ich die ersten elf Jahre meines Lebens in der Stadt verbracht und ein Städter geblieben war, hatte Michael, obwohl kein Bauernsohn, die Naturwüchsigkeit eines Landjungen entwickelt. Sein erster Spitzname im Gymnasium lautete nicht von ungefähr «Hörbock» (mit einem offenen «ö»), was nicht nur der Sache, sondern auch ihrer Bezeichnung zuzuschreiben war, hatte Michael uns doch darüber ins Bild gesetzt, dass in seinem Dorf ein Gockel seiner Tätigkeit wegen so benannt werde. Nun gesellte sich also zu dieser Naturwüchsigkeit des rothaarigen Strubbelkopfes auch noch die Flöte. So wurde Michael zum perfekten Faun, und mit der grössten Selbstverständlichkeit verzog er sich in den Wald mit den Mädchen, denen ich, mich vor Sehnsucht verzehrend, aber die entsublimierte Regression, wie man es heute wohl nennen würde, verabscheuend, Gedichte schrieb. In Wahrheit war ich vermutlich einfach feige, nannte es aber Ritterlichkeit, Ernst und Verantwortung, wie mir viel später dämmerte.

Doch solche Irritationen konnten unserer Freundschaft letztlich nichts anhaben, denn sie lebte vom rationalen *Diskurs. Es kam vor, dass wir nicht nur die Schul-, sondern auch Ferientage miteinander verbrachten, und deren Höhepunkt – jedenfalls in meiner *Erinnerung – waren die endlosen Nächte, die wir, begleitet von einem guten Tropfen, damit verbrachten, Themen so lange zu diskutieren, bis wir uns entweder gefunden oder herausgefunden hatten, weshalb wir uns nicht finden konnten. Bis heute ist mein Denken und Tun von dem Glauben geprägt, Verständigung sei letzten Endes immer erreichbar, wenn man sich die nötige Zeit nehme und bereit sei, auf den Gesprächspartner einzugehen – ein allzu oft tragische Folgen zeitigendes Beispiel für Palmströms Moral, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf, denn längst habe ich die kognitive Einsicht in die grundsätzliche Unmöglichkeit der Verständigung gewonnen.

So deutet denn diese prägende Erfahrung des rationalen* Diskurses, verbunden mit einem unbesiegbaren Drang, die Welt schöner zu schreiben als sie ist, auf jenen Mangel an intellektueller Stringenz, der im Lauf der Jahre ein gewisses hierarchie-verdächtiges Ungleichgewicht in unsere Freundschaft getragen hat: Während Michael mit eiserner epistemologischer Selbstdisziplin in die Verhältnisse zwischen *Subjekt, Werk und Wirklichkeit eindrang, liess ich mich auf so etwas Niedriges ein wie Ökonomie, schweifte in allen möglichen Grenzgebieten zwischen den Disziplinen herum und war stets bedacht, mir meine Möglichkeiten nicht durch Tatsachen einengen zu lassen.

Heute, in einer Zeit der Transformation vom industriellen zu einem von mir als «kulturell» betitelten Zeitalter, in dem der Mensch vom Subjekt zum Projekt wird und die Wirklichkeiten aus kulturellen Virtualitäten emergieren, könnten wir uns vielleicht wieder einmal eine Nacht lang zusammensetzen und eine Verständigung darüber suchen, was in solchen Zukünften zum Sinn des Lebens werden könnte...



Jugendlich





  Biografie







Kurzbiographie Christian Lutz, Dr. oec. publ.

Geboren 8. 10. 1940 in Winterthur (Schweiz). Studium und Doktorat der Wirtschaftswissenschaften in Zürich. Gleichzeitig journalistische Tätigkeit. 1967 Eintritt in die Wirtschaftsredaktion der «Neuen Züricher Zeitung» (NZZ). 1968-1974 Korrespondent der NZZ in Brüssel (EU, Nato, Benelux). 1974-1980 Chefökonom des Schweizerischen Bankvereins, Basel. 1980-1998 Direktor des Gottlieb Duttweiler Instituts für Trends und Zukunftgestaltung, Rüschlikon (Zürich). Autor zahlreicher Artikel, Buchbeiträge und Bücher (darunter «Leben und Arbeiten in der Zukunft», Langen Müller Verlag München, 2. Aufl. 1997), Verwaltungsrat Sustainable Performance Group, Governor European Cultural Foundation. Langjähriger Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung. Präsidierte die Eidg. Expertenkommission «Schweiz Morgen» und die Groupe de Réflexion für die Expo.01 bzw.02; wirkte mit in den Eidg. Expertenkommissionen «Qualitatives Wachstum» und «Energieszenarien». Betreibt heute als Publizist und Berater mit Wohnsitz in Feusisberg (Kanton Schwyz) und Refugium in Frankreich Zukunftsstudien im Bereich Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft.

Feusisberg, Sommer 2000