Das Empire der Sprache
Peter Hughes
Ich beginne meine Betrachtungen zum Thema "Weltliteratur" in englischer Sprache mit einer neuen, Ihnen vielleicht unbekannten Interpretation des *Goetheschen Konzeptes der Weltliteratur. Homi Bhabha zitiert nämlich in seinem Buch the location of culture Goethes letzte Betrachtungen zur Weltliteratur aus dem Jahre 1830 und kommentiert diese wie folgt:
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"Goethe meint, dass die Möglichkeit einer Weltliteratur aus der kulturellen Verworrenheit entsteht, die von schrecklichen Kriegen und gegenseitigen Konflikten herbeigeführt wurde....denn die sämtlichen Nationen, in den fürchterlichsten Kriegen durcheinandergeschüttelt, sodann wieder auf sich selbst einzeln zurückgeführt, hatten zu bemerken, daß sie manches *Fremdes gewahr worden, in sich aufgenommen, bisher unbekannte geistige Bedürfnisse hie und da empfunden. Goethe bezieht sich natürlich direkt auf die Napoleonischen Kriege, und sein Begriff des Gefühls nachbarschaftlicher Beziehungen ist zutiefst eurozentrisch; dieses reicht nur bis nach England und Frankreich.
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Ich zitiere Bhabha hier aus der deutschen Uebersetzung, um seine Argumentation nicht nur verständlich sondern auch klarer zu machen. (Es gibt meiner Meinung nach nur zwei Schriftsteller, die auf deutsch besser verständlich sind als auf English--Homi Bhabha und Ludwig Wittgenstein. Doch Homi Bhabha ist der einzige, dessen Werk erst in der Uebersetzung richtig klar wird). Trotzdem birgt der Gewinn an Klarheit die Gefahr eines Verlustes an Wahrheit. Bhabha verwirft Goethes These, dass Weltliteratur recht eigentlich die Frucht einer ganzen Welle von revolutionären und napoleanischen Konflikten gewesen sei, die während dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ausgefochten wurden. Diese Fehlinterpretation macht es unumgänglich, den von Bhabha zitierten Abschnitt aus Goethes Text einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Sicherlich ist es absurd, Goethe den Vorwurf des Eurozentrismus zu machen. In der Tat transformierten diese Kriege die Geschichte der Kulturen Nordamerikas tiefgreifend. Die *amerikanische Niederlage von 1812 bedeutete ja, dass die kanadische Hälfte des Kontinents keine Revolution durchmachte, während *Amerika, von der französischen und spanischen Schwäche profitierend, mit den Kolonien Louisiana, New Mexico und Kalifornien einen ganz neuen, multikulturalen Charakter erhielt. In Zentral- und Südamerika brachten die Befreiungskriege, angeführt von Bolivar und San Martin, die bereits schwindende politische Macht der Spanier und Portugiesen endgültig ins Wanken. Mehr noch: Der islamische Teil und die Küsten Afrikas, die Karibik, Indien, Australasien, aber auch Europa zwischen Irland und Polen, all diese Länder und Regionen wurden eine Generation lang von heftigen Konflikten geschüttelt, die fast nichts beim Alten beliessen. Aber Bhabha übersieht auch die spezifischen Umstände von Goethes These, dass alle Nationen unter einem kollektiven Kulturschock stünden, eine Idee, die ich später wieder aufgreifen werde. Wie wir sehen werden, hatte Goethe absolut recht, wenn er einen Verlust und gleichzeitig ein "bisher unbekanntes geistiges Bedürfniss hie und da empfunden" registrierte und beides mit einem globalen Verständnis der Literatur verknüpfte. Wenn jemand von Bhabhas Kaliber sich einen solchen Ausrutscher leistet, dann lohnt es sich, die Quelle seiner Fehlinterpretation näher anzuschauen. Dieses Vorgehen hat zudem den Vorteil, uns einen Einblick ins Reich der kulturellen Theorien zu verschaffen, die die gegenwärtigen Debatten in der englischsprachigen Welt prägen.
Bevor Bhabha sein Fehlurteil über Goethe füllt, kommentiert er ein Gedicht unseres englischen Apostels der Weltliteratur, W.H. Auden. In "The Cave of Making" geht es um Dichter und Dichtung. Auden, der die Englische Dichtung in den 30er Jahren nachhaltig beeinflusste, wanderte nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Amerika aus, liess sich aber nach Kriegsende in Oesterreich nieder. Zusammen mit Samuel Beckett war er damals der intelligenteste und gelehrteste der Dichter, die im englischen Sprachraum schrieben. Aber im Gegensatz zu Beckett, dessen Vorstellung von Weltliteratur wie diejenige von Borges auf Reduktion und Kürze beruhte, erweiterte und vergrösserte Auden unsere Vorstellungen von Literatur und von der dichterischen Sprache. Auden sah sich (oder wollte so gesehen werden) in der Tat als eine Art zeitgenössischen (aber um einiges bescheideneren) anglo-*amerikanischen Goethe:
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I should like to become, if possible,
a minor atlantic Goethe,
with his passion for weather and stones but without his silliness
re the Cross: at times a bore, but....
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Ich möchte, wenns erlaubt ist,
ein geringerer atlantischer Goethe sein
mit all seiner Passion fürs Wetter und für Steine aber ohne seine Vernarrtheit
in das Kreuz: was auf die Dauer langweilt....
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Die folgenden Verse sind den von Bhabha zitierten Zeilen direkt vorangestellt :
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while knowing Speech can at best, a shadow echoing
the silent light, bear witness
to the Truth it is not, he wished it were, as the Francophile
gaggle of pure songsters
are too vain to.
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während erkennende Sprache im besten Falle ein Schatten (sein) kann
in dem das stille Licht widerhallt, ein Zeugnis
der Wahrheit--ist sie nicht...
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Bhabhas Zitat bricht vor dem Ende des Audeschen Gedichtes ab, was dem Leser eine wichtige Unterscheidung im Werke Goethes vorenthält, nämlich jene zwischen der Dichtung als Zeugin einer Wahrheit, die sie gar nicht besitzt, und der satirischen Meinung, dass die Symbolisten (und mit ihnen das ganze "frankophile Geschwätz der Troubadours") die Dichtung als reine Wahrheit anpreisen oder wenigstens als diejenige Wahrheit, die uns genügen soll.
Auden war sicherlich der gewandteste Handwerker unter den modernen Dichtern. Ich kann nicht aus dem Stegreif sagen, auf wen ein analoges Urteil in der deutschen Literatur zutreffen würde (vielleicht auf Gottfried Benn?). Für Dichter der Weltliteratur wie Derek Walcott oder Joseph Brodsky, Seamus Heaney oder V.S. Naipaul hat Auden einen ganz besonderen Stellenwert. Diese Dichter mögen nicht mit allem, was Auden schrieb, einverstanden gewesen sein; aber sie waren sich auch bewusst, dass das, was aus seiner Gedichteküche kam, besser war als das, was sie zu schreiben vermochten; ja sie fanden sogar seine Prosa bewundernswert. Bhabha ist also auf dem richtigen Weg, wenn er Auden als unseren modernen Goethe charakterisiert. Joseph Brodsky hat erzählt, dass Audens Gedichte für ihn in seinem russischen Gefängnis eine Offenbarung waren. Und als Brodsky von den russischen Behörden in den Westen abgeschoben wurde, war sein erstes Ziel Audens Residenz in Niederösterreich. Was Brodsky nun über Auden sagt, und zwar in Sätzen, die denen von Bhabha über Goethe ähneln und die Derek Walcotts Aeusserungen über das Empire der Sprache antizipieren, ist ein entscheidendes Argument in der Formulierung einer Theorie der Weltliteratur:
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"...what Auden had in mind from the very outset of his poetic career was the sense that the language in which he wrote was transatlantic or, better still, imperial: not in the sense of the British Raj but in the sense that it is the language that made an empire. For empires are held together by neither political nor military forces but by languages.
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"...vom Anbeginn seiner dichterischen Laufbahn war Auden davon überzeugt, dass die Sprache seiner Dichtung eine transatlantische oder besser: eine imperiale Sprache sei: nicht im Sinne des britischen Raj, sondern weil es die Sprache war, die ein Weltreich erschuf. Denn Weltreiche werden nicht durch politische oder militärische Kräfte zusammengehalten, sondern durch die Sprache."
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Joseph Brodsky sagte einmal, dass es in der Gegenwart und Vergangenheit Russlands nur zwei Dinge gebe, die es verdienten, verewigt zu werden: die Schlachtflagge der zaristischen Kriegsflotte, ein blaues St. Andreas-Kreuz auf weissem Grund, sowie die Sprache von Pushkin und Akhmatova (und natürlich von Joseph Brodsky selber). Unsere modernen und *postmodernen Vorstellungen über das Empire der Sprache sind ein Legat von Goethe, welches zuerst an Auden, dann von Auden an Brodsky, und schliesslich von Brodsky an Walcott weitergegeben wurde. In den früheren Phasen mag dieses Empire als Uebersetzung aus dem Deutschen verstanden worden sein. In jüngerer Zeit aber wurde diese Idee als Uebertragung einer anspruchsvollen russischen Theorie (und Praxis) der Literatur verstanden, wonach die Sprache als Wiedergutmachung für eine mit Lügen verseuchte Welt gesehen wird.
Wenn wir die Worte Empire, Imperium und Reich denken, so stellen wir ihnen intuitiv die Begriffe Republik, Nation und Freiheit gegenüber. Doch für lange Abschnitte der Geschichte war die Antithese der Reichsidee nicht die Republik, sondern der Barbarismus. Genauso wie sich das Wort "Barbarismus" von Sprache ableitet, indem es das Geplapper der nicht griechisch sprechenden Menschen imitiert, so ist auch das Empire in erster Linie ein Symptom der Sprache. Die Werke des grössten englischen Historikers, Edmund Gibbon, hatten mit England selber wenig zu tun, wohl aber mit dem Phänomen der Sprache. Sein erstes erfolgloses Projekt war eine Geschichte der schweizerischen Republik. Dieses Unterfangen gab er auf, um sein späteres Meisterwerk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire zu schreiben. Dieses Werk kann ironischerweise sowohl als Kommentar zur Verteidigung des Reiches gegen äussere Barbaren als auch als Verurteilung des Barbarismus des christlichen Aberglaubens gesehen werden: Gibbon behauptet ja, dass das christliche Gedankengut das Römische Reich in die Knie gezwungen habe. Sowohl die historischen Quellen als auch die erzählerische Breite dieser Geschichte besassen eine Würde, die dem helvetischen Material abgingen. In einer Sprache, die das Pathos des von ihr beschriebenen Geschehens wiederspiegelt, schreibt Gibbon, dass selbst während der letzten Phase des Ostreiches die Einwohner Konstantinopels
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In their lowest servitude and depression, the subjects of the Byzantine throne were still possessed of a golden key that could unlock the treasures of antiquity, of a musical and prolific language that gives a soul to the objects of sense, and a body to the abstractions of philosophy.
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In ihrer erniedrigenden Unterwürfigkeit und Unterdrückung besassen die Untertanen des byzantinischen Thrones trotzdem noch einen goldenen Schlüssel, mit dem sie die Schätze der Antike öffnen konnten; eine *musikalische und fruchtbare Sprache, die den Wahrnehmungen der Sinne eine *Seele geben und den Abstraktionen der Philosophie einen Körper verleihen konnte.
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Dieses Thema und die Auseinandersetzung mit dem Barbarismus, der oftmals mit Heidentum gleichgesetzt wird, ist selbstverständlich nicht ein Merkmal der englischen Literatur allein. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert können wir diesbezüglich Flauberts Salammbô neben Wildes Salomé (übrigens auch auf französisch geschrieben) und Cavafys "Waiting for the Barbarians" neben Eliots Wasteland stellen. Doch jedesmal, wenn uns diese Geschichte begegnet, sei es im Indien Kiplings, im China Ezra Pounds ("Lament of the Frontier Guard"), im Niemandsland von Coetzees Waiting for the Barbarians oder in Naipauls Karibik (z.B. in The Mimic Men), so sind die Versionen und Fragmente dieser Thematisierungen des Barbarismus immer mit einer erstaunlichen Brutalität und Grausamkeit verbunden. Ja, die Barbaren befinden sich teils innerhalb der Mauern, verteidigen sogar schon von Innen her das Reich gegen noch barbarischere Attacken von aussen. Die einzige Stabilität in diesem Chaos ist Stil. Dies kommt gut in Robert Graves Gedicht "The Cuirassiers of the Frontier" zum Ausdruck:
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Goths, Vandals, Huns, Isaurian mountaineers,
Made Roman by our Roman sacrament,
We can know little (as we care little)
Of the Metropolis: her candled churches,
Her white-gowned pederastic senators,
The cut-throat factions of her Hippodrome,
The eunuchs of her draped saloons.
...........................
That we continue watchful on the rampart
Concerns no priest. A gaping silken dragon,
Puffed by the wind, suffices us for God.
We, not the City, are the Empire's soul:
A rotten tree lives only in its rind.
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Gothen, Vandalen, Hunnen, Isaurische Hinterwäldler
Alle wurden sie Römer dank römischem Sakrament.
Was wissen wir schon (wer schert sich darum?)
Ueber die *Metropole: ihre kerzendämmrigen Kirchen,
ihre weissgewandeten, kinderschändenden Senatoren,
ihre halsabschneiderischen Verschwörungen am Rande der Rennbahn, ihre Eunuchen in tapezierten Gemächern.
...........................
Dass wir weiterhin wachsam auf den Zinnen stehen
interessiert den Priester kaum. Ein grinsender Seidendrachen,
vom Winde gebläht, genügt uns als Gottheit.
Wir, nicht die Stadt, sind des Reiches Seele:
Ein morscher Baum lebt weiter in der Rinde.
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In der letzten Zeile, wo es "Rinde" anstatt "Borke" heisst, um klarzumachen, wie weit die Vermoderung schon vorangeschritten ist, offenbart sich der reaktionäre Charakter dieses modernistischen Stils. Die Wortwahl der jüngeren Literatur ist nuancierter. Lorenzo Valla hat das noch während der italienischen Renaissance ganz lapidar ausgedrückt: "Romanum Imperium ibi esse, ubi Romana lingua"--Wo die römische Sprache gesprochen wird, befindet man sich im Römischen Reich. Valla sagte dies zu Papst Nicholas V, und so kurz das Diktum ist, es zeugt doch vom ersten Schritt in der Verschiebung der Macht--von politisch-militärischer hin zu kultureller und kirchlicher Macht. Es besteht demnach eine seltsame Symmetrie in der Art und Weise, wie englische Literatur durch klassische Analogien und *intertextuelle Echos Eingang in die Weltliteratur gefunden hat.
Was hier auffällt, ist, wie sehr die wiederkehrende Struktur dieser Weltliteratur in englischer Sprache genau Goethes ursprünglicher Erkenntnis entspricht, nämlich dass sie ein Produkt des Untergangs und des Zusammenbruchs ist. Die erste Welle des Modernismus wurde eindeutig von den Umwälzungen und Schockwellen des ersten Weltkrieges hervorgerufen, wie man im polyglotten und fragmentierten Stil von Eliots Wasteland gut erkennen kann. Es gab natürlich auch die eher psychologischen Umwälzungen, auf die sich Virginia Woolf in ihrem berühmten Satz bezieht: "In or about December 1910, human nature changed". Was sie zu dieser verallgemeinernden Aeusserung veranlasste, war ein künstlerisches, nicht ein politisches Ereignis: Es war der Zeitpunkt der ersten post-impressionistischen Ausstellung in England. Doch ihre Einsicht--genauso wie die Malereien von Franz Marc, die von noch nicht geschehenen Katastrophen zeugen--zeigt auch auf, wie unsicher kausale Begründungen sind.
Die stärkste und entscheidende Unterstützung für Goethes Auffassung von Weltliteratur liefert der Umstand, dass die von Bhabha heraufbeschworene "kulturelle Verworrenheit" nicht nur auf Ausdrucksformen des Ruins, sondern auch auf eine Erfahrung der Leere und der Sinnlosigkeit in unserer eigenen Zeit, insbesondere im Gebiet der "emergent literatures," zurückgeführt werden kann. Mit anderen Worten: Was der erste Weltkrieg für die modernistische Weltliteratur war, das ist das langsame Sterben des Kolonialismus und die Ausbreitung nationalistischer Befreiungskriege für die "emergent literatures." Ich gehe nun über zu einer Interpretation einzelner Textabschnitte von Derek Walcott und V.S. Naipaul, welche unser Verständnis von Literatur erweitern können, indem sie uns aus unserer angestammten kulturellen Vernetzung heraussetzen. Und wir werden sehen, dass die Hybridität dieser Texte nicht auf ihrer "genetischen" oder kulturellen Herkunft beruht, sondern auf ihrer Sprache und ihrem Stil.
Beide Dichter sind absolut erstrangig. Derek Walcott ist der gegenwärtig beste Dichter in der englischen Sprache (oder den englischen Sprachen), und V.S. Naipaul gilt als der beste Prosa-Schreiber (ich sage absichtlich nicht als der beste Romancier). Beide Autoren stammen aus der Karibik, Walcott aus St. Lucia und Naipaul aus Trinidad. Beide Künstler kommen auch aus gebildeten *Familien, obwohl sie unterschiedlicher Herkunft sind. Walcott stammt von englischen und westindischen Eltern ab, Naipaul von einer ärmlichen, aber hochkastigen Brahmin Familie (Naipaul's Bruder, Shiva, und sein Neffe, Neil Bissoondath, haben beide als Romanschriftsteller von sich reden gemacht; sein Vater, Seepersad, schrieb neben Zeitungsartikeln auch Geschichten). Die von den Dichtern besuchten Schulen, St. Mary's College in Castries und The Queen's Royal College in Port of Spain, gehörten damals zu den besten Ausbildungsstätten in der anglophonen Welt. Naipauls Leistungen in der Schule ebneten ihm den Weg, für ein"scholarship" in Oxford . Was Walcott's Schule anbelangt, so ist sie eine der wenigen, die sich rühmen kann, innerhalb weniger Jahre zwei Nobelpreisträger hervorgebracht zu haben, nämlich den Preisträger für Literatur und denjenigen für Wirtschaft, James Lewis.
Naipaul hat die Tendenz, sein breitgefächertes literarisches Wissen herunterzuspielen und seine intertextuellen Einflüsse zu verheimlichen. Aber sein Versuch, etwas zu verdecken, zieht gerade die Aufmerksamkeit auf sich, und Echos von oder Allusionen an Conrad, Flaubert, Suetonius, Gibbon, und sogar (wie wir sehen werden) Hermann Broch sind keine Seltenheit. Derek Walcott geht ins gegenteilige Extrem, indem er seine Umschreibung der Odyssee als Omeros betitelt und sich als Professor für Dichtung in die akademische Welt gestürzt hat. Aber auch hier führt uns Walcotts Antwort auf das, was James Joyce einmal den "Alptraum der Geschichte" genannt hat, noch tiefer in die Literatur hinein, anstatt aus ihr heraus. Wie tief genau lässt sich für monoglotte englische Leser nicht einfach bestimmen, denn Walcott übernimmt sehr viel von der französischen Dichtung und vom creolischen Patois, dem Dialekt zahlreicher Inseln auf den Antillen, der sogar auf Inseln wie St. Lucia und Dominica gesprochen wurde, die bis zu ihrer Unabhängigkeit in den sechziger Jahren lange Zeit unter der Herrschaft Englands standen.
Zuerst nun zu Naipaul und seinem grossen, rätselhaften Buch The Enigma of Arrival (1987). Obwohl er es einen Roman nennt, handelt es sich bei diesem Buch doch eher um das, was bei den Franzosen als "mémoire intérieure" gilt, also um eine Art modernes Pendant zu Chateaubriands Mémoires d'Outretombe oder, um ein weiteres Werk zu nennen, das Parallelen mit Naipauls Buch aufweist, zu Nirad Chaudhuris Autobiography of an Unknown Indian (1951). Obwohl es in der Ich-Form geschrieben ist, stellt das Buch eine seltsam monumantale Abhandlung über das Leben des Dichters dar, welches am Ende die Erzählstruktur ganz auflöst, um in eine Meditation über den Tod des Dichters auszumünden. Das Buch und die Meditation enden mit dem Satz, dass der Dichter jetzt das Werk, das wir soeben gelesen haben, zu schreiben beginnt, also The Enigma of Arrival.
Naipauls Titel ist eine Anlehnung an den Namen eines Bildes von Giorgio de Chirico: L'enigma dell'arrivo e del pomeriggio, einem Gemälde, das durch das ganze Buch geistert, und das auch auf der Titelseite von Naipauls Buch abgedruckt ist.

Naipaul war überzeugt, dass der Name des Bildes ein passender Kommentar zu seinem eigenen Leben sei; zudem fand er Gefallen daran, dass der Name dieses und weiterer surrealistischer *Bilder ursprünglich vom französischen Dichter Guillaume Apollinaire stammt. Doch während er noch über das Gemälde nachsinnt, beginnt Naipaul schon damit, eine alternative Geschichte zu ersinnen:
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"A classical scene, Mediterranean, ancient-Roman--or so I saw it. A wharf; in the background, beyond walls and gateways (like cut-outs), there is the top of the mast of an antique vessel; on an otherwise deserted street in the foreground there are two figures, both muffled, one perhaps the person who has arrived, the other perhaps a native of the port. The scene is of desolation and mystery: it speaks of the mystery of arrival. It spoke to me of that, as it had spoken to Apollinaire....I didnt think of this as an historical story, but more as a free ride of the imagination. There was to be no research. I would take pointers from Virgil perhaps for the sea and travel and the seasons, from the Gospels and the Acts of the Apostles for the feel of the municipal or provincial organization of the Roman Empire; I would get moods and the idea of ancient religion from Apuleius; Horace and Martial and Petronius would give me hints for social settings."
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"Eine klassische Szene, mediterran, antik-römisch--so sah ich sie jedenfalls. Ein Kai; im Hintergrund, hinter Mauern und Torbögen (wie aus Papier ausgeschnitten) ist die Mastspitze eines antiken Schiffes zu sehen, auf einer sonst verlassenen Strasse im Vordergrund stehen zwei Gestalten, beide verhüllt, die eine vielleicht der Ankömmling, die andere vielleicht ein Einwohner der Hafenstadt. Die Szene ist trostlos und rätselhaft: Sie handelt vom Rätsel der Ankunft. Für mich wie für Apollinaire. . . . Ich stellte mir das nicht als historische Geschichte vor, sondern wollte mich vom freien Fluss der *Imagination tragen lassen. Es sollte keine Recherche geben. Für das Meer und die *Reise und die Jahreszeiten würde ich vielleicht bei Vergil Anregungen finden, für die atmosphärische Wiedergabe der Gesellschaft der Städte oder Provinzen des Römischen Reiches in den Evangelien und der Apostelgeschichte; eine Vorstellung von der antiken Religion würde ich durch Apuleius bekommen, Horaz und Martial und Petronius würden mir Hinweise auf gesellschaftliche Hintergründe geben."
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Das heisst, Naipauls Geschichte ist aus anderen Geschichten gewoben worden. Wie dicht und komplex dieses anspielungsreiche Verweben eines Gemäldes, einer Erzählung und seiner persönlichen Geschichte für Naipaul war, wurde mir einige Wochen, nachdem ich diesen Vortrag in Michael Boehlers Seminar über die Weltliteratur gehalten hatte, viel klarer bewusst. Von meinem Freund und Kollegen Bernard Schweizer, der zu diesem Zeitpunkt an Naipauls Nachlass in der Manuskript-Sammlung der University of Tulsa arbeitete, erhielt ich den Beleg, dass Naipauls Vorstellung schon mindestens fünfzehn Jahre bevor er The Enigma of Arrival schrieb, von diesem Bild angeregt wurde - oder gar besessen war. In einem Entwurf für Guerillas aus dem Jahr 1972 erfahren wir von einer Figur namens "Anil, die Naipaul sehr ähnlich zu sein scheint:
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"In Oxford he romanticised his background; and he had come to Oxford to discover glory. But Oxford hadn't worked out. Where did the sense come to him, as it had done quite early, that he was doomed to be everywhere at the wrong time? He felt he was in a decaying country in England, in London; he couldn't share the undergraduates' romantic vision of their life at Oxford. Anil also wants to write. In his first term he had begun a novel based on Kafka, and derived from a painting by de Chirico. The Mystery of Arrival. This painting shows a stranger in a classical port, a bare wharf; only the white mast of the ship revealing that he had arrived on this vessel. Anil had been stirred by this picture; it was the idea he had cherished throughout Oxford.
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"In Oxford romantisierte er seine Herkunft; und er war nach Oxford gekommen, um den Ruhm zu entdecken. Aber in Oxford hatte es nicht geklappt. Woher erhielt er diesen Eindruck, und er hatte ihn schon ziemlich früh gehabt, dass er dazu verdammt war, überall zur falschen Zeit zu sein? Er fühlte, dass er in England, in London, in einem zerfallenden Land sei; er konnte die verklärte Sicht, die die Studenten von ihrem Leben in Oxford hatten, nicht teilen. Anil will auch schreiben. In seinem ersten Semester hatte er einen Roman begonnen, der auf Kafka basierte und von einem Gemälde de Chiricos inspiriert wurde. Das Rätsel der Ankunft. Das Gemälde zeigt einen Fremden in einem antiken Hafen, ein schlichtes Pier; einzig der weisse Mast des Schiffes gibt preis, dass er mit ihm angekommen ist. Anil war von diesem Bild angerührt worden; es war der Eindruck, den er während Oxford in sich getragen hatte".
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Aus der Verknüpfung des römischen Bootes mit Vergil und dem Tod wird ersichtlich, dass noch weitere nicht genannte Werke einbezogen sind. Damit verweist Naipauls Geschichte nämlich auf ein anderes Buch, mit dem es eine eigentümliche Verwandtschaft hat: Hermann Brochs Der Tod des Vergil. Hier ist der Anfang von Brochs Geschichte:
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"Stahlblau und leicht, bewegt von einem leisen, kaum merklichen Gegenwind, waren die Wellen des adriatischen Meeres dem kaiserlichen Geschwader entgegengeströmt, als dieses, die mählichen anrückenden Flachhügel der kalabrischen Küste zur Linken, dem Hafen Brundisium zusteuerte....Doch auf dem unmittelbar hinterdrein folgenden Schiffe befand sich der Dichter der Äneis, und das Zeichen des Todes stand auf seine Stirne geschrieben."
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Der Tod des Vergil ist selber ein Meilenstein der Weltliteratur. Brochs erstaunliche Erzählung wurde im Jahre 1945 veröffentlicht, während der Autor im Exil in New York weilte, und zwar gleichzeitig in deutscher und englischer Sprache. Sein eigener Kommentar zu seinem Werk kann durchaus als Hinweis betrachtet werden, dass das Buch Naipaul als eine Art Vorbild oder "master narrative gegolten hat:
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"Obwohl in der dritten Person dargestellt, ist es ein innerer Monolog des Dichters. Es ist daher vor allem eine Auseinandersetzung mit seinem eigenen Leben, mit der moralischen Richtigkeit dieses Lebens, mit der Berechtigung und Nichtberechtigung der dichterischen Arbeit, der dieses Leben geweiht war."
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Genau diese Auseinandersetzung beherrscht ja auch den "inneren Monolog des Dichters bei Naipaul. Doch das Rätsel des Buches liegt in seiner komplexen Beziehung zu Brochs Thema--und vielleicht auch zu dessen Text. Das Rätsel oder Enigma (was übrigens ein altes griechisches Wort für Anspielung, Allusion, ist) vertieft sich noch wenn man bedenkt, dass Naipauls grosse Meditation über die Literatur und das Zusammenbrechen der konventionellen Realität von einer deutschen Erfahrung hervorgerufen wurde, und zwar von einer Erfahrung des Untergangs, was Naipaul vorher arroganterweise nur der Dritten Welt zugetraut hatte. Nun entdeckte er dieses Klima des Untergangs in *Berlin, was wiederum eine Verbindung zwischen dem Erzähler, Goethe, Deutschland, der römischen Kultur, und dem bevorstehenden Tod von Naipauls Schwester herstellt:
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"Dann wurde Frau Gandhi in Delhi von ihren Leibwächtern erschossen. Unmittelbar danach kam der Deutschlandbesuch bei meinem Herausgeber: der Schock Ostberlins, noch immer teilweise in Trümmern nach vierzig Jahren, wo Keimlinge auf den zerborstenen Mauern einzelner Häuser zu Bäumen herangewachsen waren--all das die Vision einer zerbrochenen Welt, völlig neu für mich. Ich hätte viel früher zu einem Augenschein da hingehen sollen. Am Morgen des letzten Tages meines Deutschlandaufenthaltes, in Westberlin, machte ich mich auf zum ägyptischen Museum. Bei meiner Rückkehr fand ich die Nachricht vor, dass meine jüngere Schwester Sati gleichentags in Trinidad eine Gehirnblutung erlitten hatte--genau zu der Zeit als ich das Museum verliess. Sie befand sich im Koma, ohne Hoffnung auf Genesung.
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Dies ist in verschiedener Hinsicht eine unerwartete Erfüllung von Goethes Diktum über die Weltliteratur, eine geteilte Erfahrung indem die Leere der Kolonialwelt einen Bogen schlägt zum Ruin der ehemaligen Kolonialherren. Und Naipauls Wahrnehmung von der "zerbrochenen Welt Berlins, für die er zwar eine hinduistische Erklärung hat, ist ein Wiederhall von Brochs abschliessenden Worten über den "quellenden Brunnen der Mitte, unsichtbar leuchtend in unermesslicher Wissensangst: das Nichts erfüllte die Leere und ward zum All.
Die unausgesprochene Implikation dieser Lesart kann nun konkret als Theorie (oder ist es eine Gegentheorie?) formuliert werden: Gegen die Tendenz postkolonialer Studien, die sich auf dubiose historische Kategorien abstützen, sagen also Walcott und Naipaul, dass die Geschichte ein Alptraum sei, aus dem wir, genau wie James Joyce, erwachen wollen. Walcott stellt die Worte von Joyce sogar seinem wichtigen Essay "The Muse of History als Epigraph voran. Es ist die aesthetische und politische Herausforderung an die Muse der Geschichte, welche die Weltliteratur zur modernen Realität macht, als Weg heraus aus dem Zyklus von Nostalgie und Wut. Walcott sagt zu Beginn seines Essays:
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"In der Neuen Welt hat die sklavische Unterwürfigkeit gegenüber der Muse der Geschichte eine Literatur der Gegenbeschuldigung und der Verzweiflung hervorgebracht, eine Literatur der Rache seitens der Nachkommen von Sklaven beziehungsweise eine Literatur der Reue seitens der Nachkommen von Sklavernhaltern...Diese Scham und Ehrfurcht vor der Geschichte erfüllt Dichter der Dritten Welt, die Sprache als Sklaverei empfinden und in ihrem zornigen Streben nach Identität nur Zusammenhanglosigkeit oder Nostalgie respektieren.
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Um kreativ tätig zu sein, müssen wir unbedingt lernen, ohne Nostalgie auszukommen. Umgekehrt ist es aber auch wichtig, die verächtliche Haltung gegenüber der Vergangenheit abzuschütteln, die der Historiker Antoine Corbin als "dolorismus definiert hat. Sicherlich ist es höchste Zeit, eine gute Dosis Skepsis gegenüber der von Amerika ausstrahlenden Ideologie des Postkolonialismus zum Ausdruck zu bringen. Es ist nämlich eine Ideologie, die im Spiegel des Imperialismus und des Kolonialismus alle möglichen Gesichter sieht, nur nicht ihr eigenes. Es gilt auf der anderen Seite aber auch zu erkennen, dass unser gegenwärtiges Verständnis des Postmodernismus mit der von mir dargelegten Sichtweise der Weltliteratur einige Gemeinsamkeiten hat. Wenn man nämlich Historizismus nicht mehr als Theorie über historische Einheiten wie Nationen, Völker, oder Individuen und statt dessen als Theorie über den sprachlichen Umgang und die Regeln des Redens über das Historische ansieht, dann kommen wir automatisch zum Postmodernismus. Und die Weltliteratur entsteht nun gerade aus einer analogen Verwandlung innerhalb der Sprache.
Genau diese Verwandlung von kurzlebigen Ereignissen und fehlenden Daten in *Metaphern und Denkfiguren ist das herausragende Merkmal von Derek Walcotts Dichtung. In seinem Gedichtband "The Season of Phantasmal Peace verwandelt Walcott natürliche Geschehnisse, wie das Kommen und Gehen von Wandervögeln, in eines der grössten Gedichte unserer Zeit. Die erste Strophe lautet folgendermassen:
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Then all the nations of birds lifted together
the huge net of the shadows of this earth
in multitudinous dialects, twittering tongues,
stitching and crossing it. They lifted up
the shadows of long pines down trackless slopes,
the shadows of glass-faced towers down evening streets,
the shadow of a frail plant on a city sill--
the net rising soundless as night, the birds cries soundless, until
there was no longer dusk, or season, decline, or weather,
only this passage of phantasmal light
that not the narrowest shadow dared to sever.
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Dann erhoben sich alle Vogelnationen in Scharen
und warfen ein riesiges Schattenmuster auf die Erde
ihr Gezwitscher in den verschiedensten Dialekten und Sprachen
verwob sich zum Klangteppich. Von hoch fielen
die Schatten langer Tannen auf weglose Gefilde
die Schatten verglaster Türme legten sich auf dämmernde Strassen
und der Schatten eines Pflänzchens verzierte den städtischen Sims--
Das Netz schwebt höher und höher wie lautlose Nacht,
die Vogelstimmen verstummen, bis
sie das Ausbleiben von Dämmerung, Jahreszeit, und Wetter erleben
und nur noch unergründliches Licht erblicken
das kein noch so kleiner Schatten verdüstert
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Solche Dichtkunst zeugt gerade von dem was Walcott in seinem Essay "Die Muse der Geschichte über das Empire der Sprache gesagt hat. Lasst uns daher die erhebenden und steigenden Rhythmen dieses Gedichtes im Gedächtnis behalten. Denn Walcott erinnert uns eindringlich daran, dass die Dichtung ihr eigenes Hoheitsgebiet errichtet: "Sprache ist unser Empire, und die besten Dichter sind nicht dessen Vasallen, sondern seine wahren Prinzen. Walcott bezieht sich hier ausdrücklich nicht etwa auf Shakespeare oder Milton, sondern auf eine ganze Reihe französischer Dichter, allen voran St.-Jean Perse und Aimé Césaire. Wie er selber sind diese zwei Künstler auch Dichter aus den Antillen, und wie er sind sie Meister des langen, wogenden Verses, des französischen verset also, was in den obigen Zeilen klar zum Ausdruck kommt. Dies sind die Dichter des Wortes, die Dichter der Welt.
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