[  biografie ]   
bekanntschaft ]   
 
*Goethe an der Dissertationsfeier vom 17.12.99
Gabriele Schwieder

Sehr verehrte Anwesende!

Ich bedanke mich beim Dekan für die einleitenden Worte und für die Einladung, meine Arbeit hier vorzustellen.
Ich bin in den letzten Jahren oft gefragt worden, worüber ich denn meine Dissertation schreiben würde. Meine Antworten waren je nach Phase des Arbeitsprozesses und je nach persönlicher Verfassung jeweils unterschiedliche. Wenn ich auf die doch eher schwierige Frage geantwortet habe, ich würde über *Goethe schreiben, dann war die Reaktion meistens: Mein Gott! Gibt es denn da noch etwas herauszufinden, ist da nicht längst schon unendlich viel publiziert worden? Antwortete ich auf die betreffende Frage, ich schriebe über Liebesgedichte, dann folgte einer ersten Irritation meist die Bemerkung: „Oh, was für ein schönes Thema.

Eine Dissertation über Goethes Gedichtsammlung West-östlicher Divan zu schreiben ist tatsächlich insofern ein gewagtes Unterfangen, als dass, auch wenn die Gedichte nicht so bekannt sind wie etwa der *Faust oder der Werther, doch eine breite Philologie und Forschung vorliegt, die es erst aufzuarbeiten gibt. Die bisherige Forschung beschränkte sich allerdings meistens auf detaillierte Interpretationen einzelner Gedichte. Ergänzend liegen einige Studien vor, die versuchen, den Divan als geschlossenen Zyklus zu lesen und die Bedeutung des einzelnen Gedichtes aufgrund seiner Platzierung innerhalb des Ganzen zu erschliessen. Doch der West-östliche Divan von Goethe ist vielmehr eine lockere Ansammlung unterschiedlichster Gedichte. Divan bedeutet übrigens soviel wie Sammlung. West-östlich ist der Gedichtband, weil er auch Ausdruck ist einer Auseinandersetzung Goethes mit der orientalischen Dichtung. Die Beschäftigung insbesondere mit der persischen Lyrik hat zu einer Erweiterung seines abendländischen Repertoires an *Bildern und *Metaphern geführt. Zugleich jedoch hat die intensive Lektüre der ihm vorliegenden Übersetzungen eine Reflexion des eigenen poetischen und poetologischen Standpunkts herausgefordert.

Ich habe in meiner Arbeit versucht, die Mehrstimmigkeit der Gedichtsammlung, – die einzelnen Gedichte fallen sich gleichsam gegenseitig ins Wort – wörtlich zu nehmen und sie als Ausdruck einer offenen Reflexion über Dichten und Dichtung zu lesen. Das heisst, ich habe den Divan als gedichtete Kunsttheorie gelesen.

Aufgreifen möchte ich nun exemplarisch einen Teilbereich meiner Arbeit, und zwar die Liebesgedichte – Sie erinnern sich an meine beiden Antworten auf die Frage nach meinem Dissertationsthema:

Die sogenannten Suleika-Lieder sind denn auch die bekanntesten Gedichte der Sammlung. In der Figur der Geliebten tritt Suleika mit dem Dichter, der sich Hatem nennt, in ein Wechselgespräch. Dadurch erhält die *Geliebte im Divan für einmal selbst eine Stimme. Und wie so oft bei Goehte findet sich hinter der literarischen Figur auch eine historisch verbürgte Geliebte des Dichterfürsten: Sie heisst Marinne von Willemer und ist die Frau eines Frankfurter Bankiers. Brisant an der Geschichte ist die Tatsache, dass ein paar Gedichte des Divan von Marianne von Willemer selbst stammen, was jedoch erst viel später bekannt wurde, und zwar nachdem die Texte längst als besonders gelungene Schöpfungen Goethes rezipiert worden waren. Die Existenz dieser Gedichte stellt letztlich die *Autorschaft Goethes in Frage, da sie belegen, dass sein Stil, seine Originalität offenbar zu kopieren sind. Damit bin ich beim zentralen Komplex meiner Arbeit angelangt: der Frage nach der Autorschaft und deren Verbindungen mit der Herausbildung von bestimmten kulturellen Vorstellungen von Liebe.

Es war mir ein wichtige Anliegen, den nur zu oft als überzeitlich zeitlos gelesenen Divan in einen kulturhistorischen Kontext zu stellen.

Die fundamentalen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse des 18. Jahrhunderts betreffen sowohl die Buchproduktion, das Lesepublikum wie auch den Literaturbegriff. Mit der Alphabetisierung besteht erstmals die Möglichkeit, eine breite Leserschaft zu erreichen. Im Kontext des angehenden Massenpublikums und –schrifttums formiert sich zudem ein neues Breitenpublikum, das sich vorwiegend aus Leserinnen zusammensetzt. Im Zuge der veränderten Lesegewohnheiten bildet sich eine neue Form der stillen, zurückgezogenen Lektüre heraus, die gegenläufig zur fortschreitenden Anonymisierung die Beziehung zwischen Autor und Leserin intimisiert. Im Kontext der Genie-Ästhetik wird der Autor zu jenem, der in eigenen Worten spricht, und er erhält um 1800 erstmals Urheberrechte, die 'seine Worte’ schützen. Im Anspruch, als modernes Individuum seine Eigentümlichkeit zu entdecken, auszudrücken und an einem Gegenüber zu spiegeln, gleicht der Dichter dem Liebenden. Entsprechend ist der Ort der Genese von Liebesvorstellungen, die übrigens heute noch ihre Wirkungsmacht entfalten, der literarische *Diskurs des 18. Jahrhunderts.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine Lektüre der Liebesgedichte des Divan ab, die diese nicht als Erlebnislyrik versteht. Die inszenierten Gespräche zwischen Dichter und *Geliebter, die eben auch als Leserin auftritt, reflektieren vielmehr selbst die komplexen Zusammenhänge zwischen Autorschaft und Liebe.
Lassen Sie mich diese Zusammenhänge anhand von zwei kurzen Textbeispielen veranschaulichen:

Im ersten Gedichtauszug spricht der Dichter. Mit dem Spiegel ist sein eigenes Werk, der Divan gemeint:

Ein Spiegel er ist mir geworden,
Ich seh so gerne hinein
(...)
Nicht etwa selbstgefaellig
Such’ ich mich überall;
Ich bin so gerne gesellig
Und das ist hier der Fall.

Wenn ich nun vorm Spiegel stehe,
Im stillen Wittwerhaus,
Gleich guckt, eh’ ich mich versehe,
Das Liebchen mit heraus.
Schnell kehr’ ich mich um, und wieder
Verschwand sie die ich sah;
Dann blick ich in meine Lieder,
Gleich ist sie wieder da.

Die schreib ich immer schöner
Und mehr nach meinem Sinn,
(...)
hr bild in reichen Schranken
Verherrlichet sich nur,
In goldnen Rosenranken
Und Rähmchen von Lasur.


In seine eigenen Texten findet der Dichter seine Geliebte; die Beschäftigung mit seinen eigenen Texten führt zu erneuter Produktivität. Der Kreativität des Dichters steht die Verherrlichung der Geliebten gegenüber, sie wird gleichsam festgeschrieben in Rähmchen von Lasur.

In der Rolle der Leserin antwortet die Angesprochene mit folgenden Zeilen:


Suleika
Wie! Mit innigstem Behagen,
Lied, empfind’ ich deinen Sinn!
Liebevoll, du schienst zu sagen:
Dass ich ihm zur Seite bin.

Dass er ewig mein gedenket,
Seiner Liebe Seligkeit
Immerdar der Fernen schenket,
die in Leben ihm geweiht.

Ja! mein Herz es ist der Spiegel,
*Freund! Worin du dich erblickst,
(...)
Süsses Dichten, lautre Wahrheit
Fesselt mich in Sympathie!
(...)

Hier wird ersichtlich, wie die geliebte Leserin als Spiegel fungiert. Sie versichert den Dichter der Wirkung seiner Texte. Sind die Liebesgedichte stets exklusiv an eine Einzige adressiert, so sind sie dennoch stets für eine ganze Leserschaft geschrieben. Denn jede potentielle Leserin kann sich als einzelne angesprochen fühlen, das heisst, sie verbringt ihre Lesestunden allein mit ihrem Dichter. Die Stimme der Geliebten des Divan findet ihr Äquivalent in unzähligen Briefen von Leserinnen, die ihren Leseerfahrungen Ausdruck gegeben haben.

Es lässt sich zeigen, wie die zunehmende Abkoppelung von Dichter und Publikum eine Gegenbewegung findet in einer* imaginären Nähe von Autor und Leser beziehungsweise Leserin.

Individualität, Autorschaft und Liebesdiskurs kreuzen sich, treten in Wechselbeziehungen. Die Gedichtsammlung von Goethe reflektiert als gedichtete Kunsttheorie diese komplexen Zusammenhänge.

Vor diesem Hintergrund lässt sich eine erneute Auseinandersetzung mit Goethes Werk legitimieren. Goethes Texte haben unser kulturelles Vorstellungsrepertoire von Liebe mitgeprägt. Dieses entfaltet noch heute seine gesellschaftliche Wirkungsmächtigkeit, und zwar unabhängig davon, ob noch Liebesgedichte von Goethe gelesen werden oder nicht.

Die in diesem Sinne von mir angesprochene Modernität und Reflexivität des Werks von Goethe hat meines Erachtens im nun zu Ende gehenden Goethejubeljahr zu wenig *Raum eingenommen.

Goethes frühe Einstellung auf die kommende, moderne Massengesellschaft findet ihren Ausdruck im folgenden Zitat, mit dem ich schliessen möchte. Als Motto für meine Dissertation konnte mir das Zitat nicht unbedingt dienen. Überliefert ist der Ausspruch Goethes in den Gesprächen mit Eckermann, und er stammt aus dem Jahre 1825:

„Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.








MB danke ich für sein unerschöpfliches Engagement als Lehrer und Forscher und für seine Streitlust. Freie Meinungsäusserung ist nur in einem Klima möglich, wo keiner nachtragend ist.
Gabriele Schwieder studierte in Zürich Germanistik, Geschiche und
Wirtschaftsgeschichte. Sie war von 1993 bis 1999 Assistentin bei Michael Böhler.