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Für Michael *Böhler Lieber Michael, was ist doch die deutsche Literatur für eine unerschöpfliche Fundgrube! Manchmal freilich stösst man auf eine neue Perle nicht in Gesamtausgaben, sondern eher zufällig, wenn sie in einem anderen Kontext stehen. Das ist dann zwar aus zweiter Hand, aber das Zitat ist bekanntlich ein häufiger und legitimer Weg der Wirkung literarischer Werke. So sprang mir neulich in der Uebersetzungsanthologie von Giovanni Bonalumi "La traversata del Gottardo", quaderno di traduzioni, die vor kurzem erschienen ist, unter den darin wiedergegebenen *Hölderlin-Fragmenten mit der Ueberschrift Auf falbem Laube ... (bei Beissner Band 2/1, S. 208), das folgende in die Augen:
Die Ueberraschung lag für mich darin, dass Hölderlin hier einen Anflug von *Humor zeigt. Der Hochton, der getragen ist von den Mitteln der Hölderlinschen Hymnensprache (Inversion, "aber", Assonanz, Zeilensprung etc.), wird am Schluss vom banalen Gebrauchswort Strikstrumpf, bei Hölderlin übrigens ein Hapaxlegomenon, in die Alltäglichkeit herunter geholt, ganz im Sinne der "humoristischen Sinnlichkeit", wie sie Jean Paul in der "Vorschule der Aesthetik" beschreibt, und mit dem entsprechenden Effekt beim Lesen. Die Versgruppe unter der Zeile Fleissig bezieht ihren Reiz aber auch daraus, dass man darin auf engstem *Raum die Denkfigur des Hegelschen Dreischritts erkennen kann, die für Hölderlin so wichtig war. Der Sämann übt sein Tun in täglicher Routine, ohne sich viel mehr dabei zu denken. In der über ihrem Strickstrumpf eingeschlafenen Frau fällt sein Blick auf eine Negation allen und damit auch seines eigenen Tuns. Und das bringt ihm zum Bewusstsein, dass er etwas tut und was er tut, eben fleissig zu sein. Dass die Untätige eine Frau ist ("eine" ist wohl wie im Schweizerdeutschen leicht despektierlich), mag ihm auch ein Bewusstsein seiner *Männlichkeit einflössen. Kurz, der Anblick der zur Unzeit über ihrer Arbeit Eingeschlafenen, darum liebt er ihn, verhilft dem Sämann zum Bewusstsein seiner selbst. Fleiss erweist sich so nicht als etwas Primäres, sondern als Reflexionskategorie. - Von der Alltagserfahrung aus gesehen ist diese Liebe überraschend. Man könnte erwarten, dass der Tätige die am hellen Tag *Schlafende beneidet und deshalb auf sie schimpft, oder dass er sie gar verachtet und gering schätzt. Hölderlins Sämann liebt in der über dem Stricken eingeschlafenen Frau eine, die sich zu seiner Negation hergibt und ihm damit bei seinem kreativen Tun zum Selbstbewusstsein verhilft. Der Vierzeiler ist so gebaut, dass Sämann und Strickstrumpf in Opposition zu einander stehen, durch ihre Position, am Ende der ersten bzw. der letzten Zeile, und als die beiden einzigen Spondeen. Das lädt dazu ein, dieser Opposition weiter nachzudenken. Beides sind auch *Bilder für geistige Tätigkeiten. Der Saemann ist seit dem bei den Synoptikern überlieferten Gleichnis Jesu (Matth. 13, 4 ff; Mk. 4, 3 ff.; Luk. 8, 5ff.) Bild und Inbegriff dessen, der eine Botschaft zu verkünden hat. *Gottfried Keller spielt damit, wenn er Heinrich von seinem Oheim, dem verbauernden angehenden Pfarrer im Dorf, sagen lässt: In Anwartschaft seines höheren Amtes übte er sich, als Saemann den göttlichen Samen in wohlberechneten Würfen auszustreuen und das Böse in Gestalt von wirklichem Unkraut auszujäten. (Der grüne Heinrich, Erste Fassung, 4. Kapitel) Auch Strickstrumpf hat sich als Bild geistiger Tätigkeit eingebürgert. Der früheste Beleg, den das Grimmsche Wörterbuch dafür bietet, stammt aus dem Brief *Goethes an *Schiller vom 30. Dezember 1795, in dem Goethe über hunderterlei Arten von Geschäftigkeiten und hunderterlei Arten von Müssiggang klagt und feststellt: mein Roman - es handelt sich um den "Wilhelm Meister" - gleicht indessen einem Strickstrumpf, der bei langsamer Arbeit schmutzig wird. Gottfried Keller stand also in der Goethe-Nachfolge, als er Ende 1854 aus *Berlin an Ferdinand Freiligrath schrieb, dass es mir ganze Vierteljahre unmöglich war, den verfluchten Strickstrumpf - den "Grünen Heinrich" - auch nur anzurühren. Der gegebene Anlass legt es nahe, Sämann und Strikstrumpf auf die beiden Tätigkeiten zu beziehen, die seit Humboldt den Beruf des Universitätsprofessors ausmachen und von ihm erwartet werden, Lehre und Forschung. Tatsächlich ist ja die Bezeichnung Strickstrumpf für ein wissenschaftliches opus magnum, an dem man über Jahre hinweg sitzt, bald lustvoll, bald fluchend, zum topos geworden, ohne dass man dabei noch an Goethe denkt. Und wer kommt sich nicht manchmal auf dem Katheder wie der biblische Sämann vor? So bietet es sich an, dem kurzen Hölderlin-Fragment auch ein statement zum Verhältnis von Lehre und Forschung zu entnehmen. Es stellt den Lehrenden in den Vordergrund, ohne allerdings auf seine Tätigkeit näher einzugehen. Sein Selbstverständnis gewinnt er wie gezeigt aus dem Blick auf den Forscher, der hier mehr zufällig, wegen des Strickens, noch ein femininum sein muss. Das Bild des resp. der über einem langwierigen opus magnum Eingedösten gibt dem Lehrenden Selbstbewusstsein im emphatischen Sinne. Wirkt er nicht Lebendigeres und Sinnvolleres als jener ? Hat er nicht die Gegenwart der blühenden, bildsamen Jugend zu seinen Füssen auf seiner Seite? Die Humanisten geben ihm mit dem Kalauer liberis non libris erst recht ein gutes Gewissen. Aber, wenn auch in der Negation, der Lehrende bleibt auf den Forschenden bezogen, und das nicht nur in gedanklicher Dialektik. Denn was hätte der fleissige Sämann überhaupt zu säen bzw. zu lehren, wenn ihm nicht ein Arsenal von Strickstrümpfen zur Verfügung stünde, die trotz dem gelegentlichen Einnicken ihrer Produzent(inn)en am hellichten Tage, eben doch einmal fertig geworden waren. Kurzum - was wären die Lehrenden ohne die Forschenden ? So gälte denn in Hölderlins Fragment der liebevolle Blick des Sämanns der Strickenden, nicht weil, sondern obwohl sie bei Tage halt auch einmal einschläft, ja genau genommen nicht so sehr ihr, als dem Strickstrumpf, der wohl dereinst ebenso ein Ende finden wird wie Goethes oder Kellers Romane. Der Sämann ist bei Hölderlin der Tätige, indessen die Strickende ruht; daraus bezieht dieser wie gezeigt sein positives Selbstbewusstsein. Aber aus dem biblischen Gleichnis weiss man, dass es von mancherlei Zufällen und Umständen abhängt, ob etliches auf gutes Erdreich fällt und dort gedeiht oder ob es widriger Umstände halber gar nicht dazu kommt, Wurzeln zu schlagen. Gegen solche Zufälle ist die Strickende mit ihrem Strickstrumpf gefeit. Ihr *Schlummer gefährdet sein Wachstum wohl temporär, aber nicht grundsätzlich. Ja man weiss, dass nicht nur der Herr es den seinen im Schlaf gibt, sondern dass allgemein das Ueberschlafen einem entstehenden Werk zugute kommen kann. Wenn sie schläft, ist die Strickende somit auf ihre Art ebenfalls fleissig. Und das Ergebnis wird dauerhafter sein als die flatus vocis der Lehrenden. So gesehen würden hier zwei Arten von tätigem Fleiss gegeneinander abgewogen, die akademischem Forschen und Lehren entsprechen und die als *Denkbilder zum Nachdenken über beider Differenz und beider Abhängigkeit voneinander anregen können. Lieber Michael, Du bist ein höchst engagierter und erfolgreicher Sämann auf dem akademischen Acker, aber nicht weniger hast Du es mit Strickstrümpfen zu tun, mit eigenen und solchen anderer, seien es einzelne oder eines Teams, denen Du unermüdlich und uneigennützig zu Nadeln und Wolle verhilfst; dazu aber wäre viel noch zu sagen. Den in Hölderlins kurzem Fragment exponierten dialektischen Gegensatz sehe ich in Deiner Person und Deinem Wirken aufs schönste aufgehoben. Lass Dir von einem, der Dir an Rat und Tat viel zu danken hat, herzlich Glück wünschen zu Deinem 60. Geburtstag. Ich tue das mit dem Unsagbarkeits-Topos und der (rhetorischen) Geste des kurzen Hölderlin-Fragments, das unmmittelbar auf das besprochene folgt:
Dein Karl Pestalozzi... |
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