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Wo spielt Couplands Generation X? Eine *Reise durch den Westen Nordamerikas. Wo spielt Generation X? - Ein Thema, das Michael *Böhler und mich wiederholt beschäftigte, seit wir uns, ich glaube, es war in meiner ersten Sprechstunde im Rahmen eines einführenden Small Talks, mit dem Thema *USA auseinandersetzten. In unregelmässigen Abständen tauchte dann auch bei näherer Bekanntschaft die Frage wieder auf, über die wir uns nicht einig werden konnten, ob das 1991 erschienene Kultbuch von Douglas Coupland im grünen Norden ("irgendwo bei Seattle, in Oregon, oder gar auf der Olympic Peninsula?"), oder aber im Süden (Assoziationen von Wüste, Staub und glühendroten Sonnenaufgängen) der amerikanischen Westküste sich abspiele. Ich möchte die Gelegenheit einer topographischen Lektüre nun beim Schopf packen, nicht zuletzt im Hinblick auf Michael Böhlers eigene baldige Abenteuerfahrt vom Norden in den Süden der USA: Welches sind die Schauplätze, an denen sich der Roman abspielt? Und was haben die Aufenthaltsorte von Dag, Claire und Andrew, den Protagonisten von Generation X, mit ihrer besonderen Weltanschauung, wenn es denn eine ist, zu tun? Die Karte USA, Westküste, 1:12 000 000 verzeichnet sowohl die für Generation X relevanten Schauplätze als auch ein paar der Highlights, die den von Norden nach Süden Reisenden an der Westküste erwarten. Die Fotos sind auf meiner eigenen Reise von Seattle nach Los Angeles im Sommer 1991 entstanden. "Dag is from Toronto, Canada (dual citizenship). Claire is from Los Angeles, California. I, for that matter, am from Portland, Oregon, but where youre from feels sort of irrelevant these days" (5). In einem Land, in dem alle Städte "the same stores in their mini-malls" haben (5), wo die von Taco Bells und McDonalds gesäumten Strassen in Olympia, WA, sich in nichts von den von McDonalds und Taco Bells gesäumten Strassen in Richmond, VA, unterscheiden, scheint die Ausbildung eines regionalspezifischen Habitus in der Tat schwer nachvollziehbar zu sein. So unterscheiden denn die drei Helden sich auch weniger durch den Ort ihrer Herkunft als durch ihre persönliche Vorgeschichte jene Geschichte, die ihren (vorläufigen) Endpunkt in einem Mietbungalowkomplex im kalifornischen Palm Springs findet. Was sie dort zu finden hoffen, das sollen die folgenden drei Fallstudien zeigen. Dag Dags hervorstechende Eigenschaft ist sein Vandalismus, der sich insbesondere auf Wagen der gehobenen Mittelklasse bezieht: in regelmässig auftretenden Ausfällen zerkratzt er mit scharfen Gegenständen Motorhaube und Windschutzscheiben von Wagen der Marke Cutlass Supreme oder *Trans/am. Ansonsten ist er ein Tierfreund und lässt auch einmal eine Woche sein Bad aus, weil eine Spinne ihr Netz in der Wanne gespannt hat. Im übrigen bezeichnet er sich als "lesbian trapped inside a mans body" (20) womit er sich jeglicher geschlechtlichen und sexuellen Zuordnung entzieht. Dag kommt aus Toronto. Sein Wagen, der direkt vor Andrews Bungalow anhält, trägt Spuren der diagonal verlaufenden Reise vom Nordosten in den Südwesten der USA, die Ontario Nummernschilder bedeckt mit einer Senfkruste aus Oklahomastaub und Insekten aus Nebraska. Dags Existenz in Toronto war die eines Yuppie Wannabes. Er sagt von sich: "I was both thrilled and flattered an achieved no small thrill of power to think that most manufacturers of life-style accessories in the Western world considered me their most desirable target market" (22). Es gehörte zu Dags gewohnheitsmässigen Überzeugungen, dass Menschen in dieser Welt nur deshalb berühmt werden, weil andere Leute viel Geld dabei verdienen. Als er jedoch eines Morgens das Fenster seines liebevoll "Veal-fattening Pen" genannten Arbeitsplatzes nicht öffnen kann und die mit *Bürogiftstoffen und Viren gesättigte Luft aus der Klimanlage bei ihm Kopfweh und Brechreiz auslöst, kommt es zum Emotional Ketchup Burst nach einem letzten Show-Down mit Martin, dem ebenso verhassten wie beneideten Ex-Hippie-Boss (Stichwort: Boomer Envy) verlässt Dag die Firma. Nach dem Ausstieg folgt der Abstieg, in den untersten Etagen der Gesellschaft zweifelt Dag an sich und seinem Leben und hält sich mit Depressionsdiät ("a total salad bar of downers and antidepressants" (34)) über Wasser. Rückblicken resümiert Dag seinen Mid-Twenties-Breakdown und die sich ihm anschliessende Flucht nach Palm Springs folgendermassen: "So the point of all of this was that I needed a clean slate with no one to read it. I needed to drop out even further. My life had become a series of scary incidents that simply werent stringing together to make for an interesting book, and God, you get old so quickly! Time was (and is) running out. So I split to where the weather is hot and dry and where the cigarettes are cheap. Like you and Claire. And now Im here" (36). Claire Während Dag der Leere und Scheinhaftigkeit einer Yuppie-Karriere den Rücken kehrt, flieht Claire vor der dem grosskotzigen endlosen manischen Geplapper ihrer unzählige Geschwister und Ex-Ehefrauen zählenden *Familie und der eigenen uneingestandenen Abhängigkeit von ihr (Savety Net-ism). Andrew und Claire Baxter lernen sich an einem Wochenende kennen, an dem der Baxter-Clan aus L.A. nach Palm Springs geflohen ist, anlässlich der finsteren Vorahnung eines New-Age-Bekehrten, dass die Häuser und *Canyons von L.A. unter schmatzendem Geschlürfe gnadenlos in die Erdspalten gesaugt würden, während ein Regen von Kröten auf sie niederprassle. Während der Wind die mit Rindfleisch, Chutney und jungem Gemüse gefüllten Pappteller in den *Pool windet, Claires Geschwister sich darüber streiten, ob es Hister oder Hitler war, den Nostradamus vorausgesagt hatte, welchen Hut Jackie Kennedy bei der Ermordung ihres Gatten trug und ob es möglich sei, die Sonne zu zerstören, und während Claires Vater einen diesmal leider echten - Herzanfall erleidet, bei dem ihm das geklaute Silberbesteck aus den Taschen gleitet, unterhalten sich Andrew und Claire über den Fluch der Familie, die Gott Claires Ansicht nach zusammenstellt, indem er seinen Finger ins Telefonbuch steckt und aufs Geratewohl eine Gruppe von Leuten auswählt. Claire, die zur Zeit als Einkäuferin für Tageskleidung jobbt (Stichwort: Anti-Sabbatical) vertraut ihm an: "Id like to go somewhere rocky, somewhere Maltese, and just empty my brain, read books, and be with people who wanted to do the same thing" (41). Auf Andrews Aufforderung zieht sie in den leeren Bungalow neben dem seinen. In Claires Wunsch, das "Gehirn auszuleeren" zeigt sich die bereits bei Dag aufgetauchte Sehnsucht nach einer Tabula rasa als auschlaggebendes Motiv für die Flucht nach Palm Springs. Claire verneint damit das ihrer Familie eigene Fluchtverhalten in leeres Geschwätze und Zynismen als Reaktion auf die Angst vor der grossen Katasrophe. Andrew Andrew, der Ich-Erzähler, ist der Gründer der in Palm Springs ansässigen Schicksalsgemeinschaft. Laut eigenen Angaben ist er weitgehend körper- und geschlechtslos. Erst eine Sportdiät hat ihm das andeutungsmässige Gefühl vermittelt, einen Körper zu besitzen, Gefühle zu Menschen des eigenen und anderen Geschlechts jedoch sind zu seinem eigenen Bedauern immer asexueller Natur: "Ive never been in love, and thats a problem" (53) (Stichwwort: Platonic Shadow). Dags Sinnkrise wird ausgelöst, als er als Fotoagent im *Sushi-Land Japan weilt, und zwar durch ein *Rilkezitat und ein Foto von Marilyn Monroe. Mister Takamichi, Dags japanischer Big Boss, ruft ihn eines Tages in sein Büro und kündigt ihm nach einigen einleitenden Förmlichkeiten des japanischen Zeremoniells an, er wolle ihm das "wertvollste Ding" zeigen, das er besitze - wobei Andrew unwillkürlich etwas in der Art von Rilkes "Buchstaben" erwartet: jener Buchstabe in uns, mit dem wir geboren werden, den wir aber - so Rilke - nur lesen können, bevor wir sterben, wenn wir wahrhaftig sind. Als Mister Takamichi ihm nun ein Foto von Marylin Monroe mit gelüftetem Rock und ohne Unterwäsche zeigt, geht Andrew auf, wie sehr nicht nur sein Boss, sondern auch er selbst dabei ist, den falschen Buchstaben für den richtigen zu halben. Er geht nach Oregon zurück, findet aber auch hier keine Ruhe: "I knew even then that there was still too much history for me there. That I needed less in life. Less past" (66). Weniger Geschichte, weniger Vergangenheit - das hofft Andrew in Palm Springs zu finden, und damit jene Wahrhaftigkeit, die es ihm möglich machen würde, seinen "Buchstaben" lesen zu können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die drei Exponenten der Generation X sich durch folgende Merkmale auszeichnen: Angst vor der Zukunft, vor Umweltgiften und Katastrophen (Dag und Claire); die Weigerung, sich als körperliche und geschlechtliche Wesen wahrzunehmen (Dag und Andrew); die Suche nach Zusammenhang und Sinn, gekoppelt an das Bedürfnis, "reinen Tisch" zu machen. Was haben diese Merkmale mit dem Entschluss des Trios zu tun, ihr Leben in der Wüste, in Palm Springs zu verbringen? "There is no weather in Palm Springs just like TV. There is also no middle class, and in that sense the place is medieval" (12). Palm Springs Village wird von Andrew als eine moderne, halbverlassene Ruine beschrieben; eine verlassene Texaco Tankstelle mit Drahtzaun rundherum und eine abgestorbenen schwarzen Palme bestimmen die Eingangsszenerie und wecken Assoziationen von Krieg und Zerstörung: "The mood is vaguely reminiscent of a Vietnam War movie set" (17). In der von Ruinen und toten Pflanzen bestimmten Szenerie scheint die Katastrophe, vor der sich die Generation X fürchtet, bereits vorweggenommen. Dies wird aber positiv, im Sinne des Wunsches nach einer "clean slate", gewendet: In der Tat bietet die Wüste jene Tabula rasa, die als Voraussetzung für den ersehnten Neuanfang nötig ist. Die Wüste ist das Niemandsland, wo die Werte und Ängste der verachteten Yuppie-Gesellschaft, belastende familiäre Beziehungen und die Gegenwart belastende *Erinnerungen vom Tisch gewischt scheinen. Die Wüste ist dem natürlichen Kreislauf der Jahreszeiten entzogen, befindet sich damit jenseits von Zeit, jenseits der belastenden Vergangenheit und einer von Ängsten beladenen Zukunft. Zum zweiten bieten die klimatischen Bedingungen von Palm Springs einen rechtfertigenden Rahmen für jenes "Nichtstun", das die Generation X der manischen Produktivität einer vom Markt gesteuerten Gesellschaft als Alternative entgegenhält: Hitze und Sonne erschweren bzw. verunmöglichen produktive körperliche und geistige Arbeit zum vornherein und evozieren einen Zustand der Lethargie, der geistigen Leere. So schreibt Max Frisch in seiner Erzählung Montauk über die Wirkung der Sonne: "Sie schien aber so grell, dass man eigentlich nichts denken und nichts empfinden konnte" (205). Schliesslich stellt die ausgedörrte Umgebung von Palm Springs, fern jeglicher Vegetation, einen objective correlative dar für die Geschlechtslosigkeit und Unfruchtbarkeit der (männlichen) Protagonisten. Wie aber wird nun auf dieser vegetativen Tabula rasa, die sich jenseits von Vergangenheit und Zukunft, jenseits natürlicher Abläufe und verbindlicher zwischenmenschlicher Beziehungen im Süden Kaliforniens erstreckt, Sinn ausgebreitet? "The dogs are already pooped from the heat and lying in the shadow of the Saab, chasing dream bunnies with twitching back legs. Dag and I, both being in a carbohydrate coma, aren't far behind and are in a good listening mood as Claire begins her story of the day" (45). Die von der Hitze erschöpften Hunde träumen von der Hasenjagd, Dag und Andrew hören sich in komaähnlichem Zustand Claires erfundene Geschichte an. Nur die Aktivität der *Imagination hebt den durch die Hitze ausgelösten Zustand der Bewegungslosigkeit auf. Fiktive Geschichten füllen den leeren *Raum der Wüste. Dass sich dabei die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischen, darauf weist das Zucken der Hinterbeine der Hunde als Reaktion auf die phantasierten Hasen hin. So vermischen auch Claire, Dag und Andrew in den Geschichten, die sie sich in Palm Springs erzählen, fiktive Elemente mit erlebten Erinnerungen, realen Ängsten und Hoffnungen. Sie benutzen die erfundenen Stories, um ihr erlebtes Leben nachträglich mit Sinn zu füllen: "We know that this is why the three of us left our lives behind us and came to the desert to tell stories and to make our own lives worthwile tales in the process" (10). *Fiktionalisierung geschieht hier als Sinnsstiftung. Der fiktionale Zusammenhang, in den die einzelnen Erlebnisse gebracht werden, erfüllt sie nachträglich mit Bedeutung. Das Motto der Generation X erinnert an einen anderen grossen Wertevernichter und "Reinen-Tisch-Macher", Friedrich Nietzsche: Nur als Kunstwerk ist das Dasein (ewig) gerechtfertigt. Auf die Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion weist auch Andrews oben zitierte Schilderung von Palm Springs hin. Die Vergleiche, die Andrew vornimmt Palm Springs ist "just like TV", und die apokalyptische Stimmung erinnert nicht an einen tatsächlichen Krieg, sondern an die *filmische Darstellung davon - zeugen von einer ästhetisierten, fiktionalisierten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die Topographie von Generation X zusammenfassend lässt sich sagen: Die Bewegung verläuft vom Norden nach Süden, damit von einer äusseren in eine innere Aktivität, von einer inneren in eine äussere Passivität, von einer vom Markt diktierten Realität in die Fiktion selbsterzählter Geschichten, von der manischen Produktivität in die Lethargie, vom Fortschritt in den Stillstand. Mit dem Wunsch, dass Michael Böhlers eigene Reise südwärts nicht von demselben Wunsch motiviert sei, sondern wir ihn genauso aktiv, produktiv und innovativ nach drei Monaten wieder bei uns haben, will ich meinen Beitrag beeenden. Zitierte Literatur: Douglas Coupland: Generation X. Tales for an Accelerated Culture. London 1991. Max Frisch: Montauk. Frankfurt a/M. 1975.... |
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