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*Goethe und Genomik
Zum Wechselverhältnis von Schrift und Leben

Michael Andermatt


Wir erleben derzeit die Fusion zweier mächtiger, bisher separat verlaufender *Technologierevolutionen, der Bioinformatik und der Genomik. Die Industriegesellschaft entwickelt sich weg von ihrer bisherigen Ressourcenbasis: Statt Erdöl, Metallen und Mineralien entdeckt sie einen neuen Rohstoff: Gene. [...] [Die Gentechniker] treibt die Idee an, eine zweite Schöpfung zu kreieren. Sie wollen [...] den Code des Lebens knacken und umwandeln, damit er perfekter funktioniert als die erste Schöpfung.


In dieser Weise äußerte sich vor einiger Zeit im Zürcher Tages-Anzeiger der *amerikanische Wissenschaftskritiker Jeremy Rifkin.(1) Seine Aussagen sollen den Problemhorizont markieren, aus dem heraus sich meine Überlegungen formulieren. Mit dem Code des Lebens, den es zu knacken gilt, meint Rifkin die DNS-Struktur der Gene. Der Heidelberger Physiker und Philosoph Bernd-Olaf Küppers erläutert dazu:


[...] die molekularen Grundbausteine des DNS-Moleküls [sind] sequentiell angeordnet wie die Buchstaben einer Schrift. [...] Die grundlegende Frage nach dem Ursprung und der Evolution des Lebendigen ist daher gleichbedeutend mit der Frage nach der Erzeugung semantischer Information.(2)


Mit der Frage nun nach der Erzeugung semantischer Information sind wir Literatur- und Sprachwissenschaftler - wenn auch auf anderem Gebiet - nachgerade einigermaßen vertraut. Ich stelle deshalb fest, dass es zwischen Literaturwissenschaft und Biotechnologie in einem wirklich zentralen Bereich interdisziplinäre Berührungspunkte gibt. Am Beispiel von *Goethes Ballade »Der Zauberlehrling« möchte ich diesem Gedanken etwas nachgehen.


I

Der Protagonist aus Goethes Ballade »Der Zauberlehrling«(3) (1798) versucht sich bekanntlich aus einem Besen einen willfährigen Diener oder künstlichen Menschen zu schaffen. Er schreitet, nachdem sein Lehrmeister aus dem Haus gegangen ist, mit folgenden Überlegungen zur Tat:


[Des Meisters] Wort' und Werke
Merkt' ich und den Brauch,
Und mit Geistesstärke
Tu' ich Wunder auch.


Die Verse halten fest, über welches Verfahren oder welche *Technik der künstliche Mensch hier entstehen soll: Es ist die Sprache. Die Sprache bildet eine der ältesten und elaboriertesten kulturellen Praktiken der Menschheit. Als Symbol*system (4) gibt sie dem Menschen die Fähigkeit, Information und Wissen unabhängig von aktuellen Eindrücken und Erfahrungen über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg zu speichern, zu tradieren und zu kommunizieren."Seine Wort' [...] merkt' ich und den Brauch", sagt der Zauberlehrling, "Und mit Geistesstärke / Tu' ich Wunder auch". Das Wissen des Meisters wird für den Zauberlehrling verfügbar in den Symbolen der Sprache. Die Schöpfung des künstlichen Menschen ist somit an den Vollzug der Sprache, an den gelingenden Symbolgebrauch gebunden. Es geht hier um die Schrift des Lebens, um die Entzifferung von Lebensschrift. Goethe repräsentiert diesen Vorgang in seiner Ballade mit einer zauberspruchartigen Formel, die er in identischem Wortlaut zweimal verwendet und in die er die Gestaltwerdung des künstlichen Menschen einbettet:


Walle! walle
Manche Strecke,
Dass zum Zwecke
Wasser fließe,
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße!


Dies die Formel, und dann der Vorgang der Verkörperung:


Und nun komm, du alter Besen!
Nimm die schlechten Lumpenhüllen!
Bist schon lange Knecht gewesen;
Nun erfülle meinen Willen!
Auf zwei Beinen stehe,
Oben sei ein Kopf,
Eile nun und gehe
Mit dem Wassertopf!


Und dann wiederholend:


Walle! walle
Manche Strecke,
Dass zum Zwecke
Wasser fließe,
Und mit reichem, vollem Schwalle
Zu dem Bade sich ergieße!


Dem Zauberlehrling gelingt vorerst der Gebrauch der Lebensschrift, denn schon in der nächsten Strophe eilt der android gewordene Besen zur Freude seines Schöpfers zwischen Fluss und Haus hin und her und füllt mit Blitzesschnelle dem badelustigen Lehrling die Wanne. Goethe übernimmt dabei weitgehend die Motivtradition, denn sein Androide wird wie in manch andern Texten auch (5) aus gewöhnlichem oder gar minderem Material geschaffen - alter Besen, schlechte Lumpenhüllen - und hat den Zweck, seinem Schöpfer zu dienen und ihm ein angenehmeres Leben zu ermöglichen.(6)
Es entspricht auch der Motivtradition, dass Goethes Zauberlehrling dann im weiteren die Kontrolle über seinen Besen verliert, denn in nahezu allen Texten, die das Motiv gestalten, wendet sich das künstliche Geschöpf früher oder später zerstörerisch gegen seinen Schöpfer.(7) Der Besen lässt sich nicht mehr bremsen und das Haus und sein Bewohner drohen in der anschwellenden Wasserflut zu ertrinken. Das erhoffte angenehme Leben, repräsentiert in der Delegierung der Arbeit und im lockenden Bade, verkehrt sich somit ins Gegenteil, in überströmende Wasserfluten und verzweifelten Todeskampf.
Auch dieses Geschehen ist wiederum über den Sprachgebrauch beschrieben, diesmal freilich über den scheiternden Sprachgebrauch. Goethe formuliert den Vorgang in der vergeblichen Suche des Zauberlehrlings nach der Beschwörungsformel, die den Besen stoppen sollte. Verzweifelt stellt der Lehrling schließlich fest:


Ach, ich merk' es! Wehe! wehe!
Hab' ich doch das Wort vergessen!

Ach, das Wort, worauf am Ende
Er das wird, was er gewesen.


Erinnern und Vergessen, Gelingen und Scheitern: Die Sprache hat im scheiternden Symbolgebrauch ihre Eigenschaft als kulturelles Speichermedium und Gedächtnis verloren - sie hört auf, Lebensschrift zu sein. Wo die Gedächtnisfunktion der Sprache fehlt - so lehrt Goethes Ballade vom scheiternden Symbolgebrauch -, kommt dem Menschen die Verfügungsmacht über die Objekte abhanden und es droht die Katastrophe. Denn auf den Verlust der Lebensschrift folgt die brachiale Gewalt: Weil die Worte nicht mehr taugen, geht der Lehrling mit blankem Beil auf sein Geschöpf los und haut es krachend in Stücke - worauf dieses sich verdoppelt und mit doppelter Kraft immer mehr Wasser hinzuträgt. Und so heißt es schließlich:


Welch entsetzliches Gewässer!
[...], die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd' ich nun nicht los.(8)


Im »Zauberlehrling« wird uns vorgeführt, dass die Natur nicht mit sich spaßen lässt, dass wir von ihr überwältigt werden,(9) wenn wir zu leichtsinnig mit ihr umgehen und unsere kulturellen Praktiken nicht ausreichend beherrschen. Die zentrale Rolle spielt dabei das Symbolsystem der Sprache. Als Medium des kulturellen Gedächtnisses garantiert die Sprache die Herrschaft des Menschen über die Dinge. Geht diese Gedächtnisfunktion verloren, wird Sprache zur nutzlosen Leerformel und es drohen Zivilisationsverlust und Tod.



II

Auf die wissenschaftsgeschichtliche Frage, wie es möglich war, dass Biotechnologie und Molekularbiologie zu den epochal neuen Möglichkeiten der Gentechnologie hatten vorstoßen können, gibt es eine klare Antwort: Klonen und ähnliche Techniken konnten nur deshalb entstehen, weil man in den siebziger Jahren die biogenetischen Informationen analog zur menschlichen Sprache in Form einer Syntax und Semantik zu repräsentieren begann.(10) Hans-Jörg Rheineberger schreibt in Erklärung der heute allgemein bekannten strichkode-ähnlichen Repräsentation von Gen-Sequenzen:


Die Schrift des Lebens ist in den Schriftraum des Labors transponiert [...]. Der Gentechnologe arbeitet mit experimentell in einem Repräsentationsraum produzierten Graphemen, die im vorliegenden Fall den ganz unmetaphorischen Charakter einer Schrift angenommen haben. Die Elemente dieses genetischen Bildes sind Buchstaben: Es ist ein Text.(11)


Wir wissen alle, dass die Biotechnologie seit einiger Zeit versucht, "die genetische Information [...] gezielt und [- wie sie meint -] sinnvoll abzuwandeln" (12). Das Programm der Molekularbiologie beschränkt sich mithin nicht auf die Wiedergabe des genetischen Textes; es läuft vielmehr darauf hinaus, den menschlichen Organismus "auf der Ebene der Gene umzuschreiben" (13). Die Gentechnik hat folglich unvermerkt einen neuen Typus von Schriftsteller ins Leben gerufen - einen, der sich nicht mehr mit Nachahmung begnügt und mit Fiktion schon gar nicht, sondern einen, der das Leben an sich neu schreiben will.
Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, wenn man die neuen Poeten der Gentechnik für die eine oder andere Lektion bei ihren bescheideneren Vorgängern noch einmal in die Lehre schicken würde. Bei Goethe etwa, aber auch bei andern, gäbe es einiges zu erfahren, das für sie vermutlich eine gewisse Relevanz haben dürfte. Denkt man nachgerade an die Frage nach dem gelingenden oder scheiternden Symbolgebrauch, dann vielleicht sogar keine geringe.(14)
 





Anmerkungen

(1)  Jeremy Rifkin im Gespräch mit Volker Stollorz: "Gutmeinende Menschenzüchter". In: Tages-Anzeiger Zürich, Freitag, 20. November 1998, S. 48.
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(2)  Bernd-Olaf Küppers: Perspektiven einer evolutionären Biotechnologie. In: Gerd Kaiser / Dirk Matejovski / Jutta Fedrowitz (Hg.): Kultur und Technik im 21. Jahrhundert. Frankfurt, New York 1993 (Schriftenreihe des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen, Bd. 1), S. 269-275, hier S. 271.
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(3)  Johann Wolfgang von Goethe: Der Zauberlehrling. In: Werke in 14 Bänden. Hg. Von Erich Trunz. Bd. 1: Gedichte und Epen. 15. Aufl. München 1993, S. 276-279.
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(4)  Im Sinne von Peirce. Vgl. Charles Sanders Peirce: The Philosophy of Peirce. Selected Writings. Hg. von J. Buchler. London 1940.
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(5)  Vgl. Rudolf Drux (Hg.): Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimov. Stuttgart 1988.
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(6)  Im Besen haben wir den technischen Fortschritt, die Verbesserung des Werkzeuges zum Doppelgänger und Ersatz des Menschen repräsentiert - ein alter Traum, den in unserem Jahrhundert die Robotertechnik weiterträumt. Vgl. dazu Gero von Randow: roboter. Unsere nächsten Verwandten. Reinbek bei Hamburg 1997. - Thomas Schlich: Vom Golem zum Roboter: Der Traum vom künstlichen Menschen. In: Richard van Dülmen (Hg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körper*bilder 1500-2000. Wien, Köln, Weimar 1998, S. 543-557. - Hans-Joachim Alpers / Werner Fuchs / Ronald M. Hahn / Wolfgang Jeschke: Blechkumpel und Superhirn: Roboter und Denkmaschinen. In: Dies.: Lexikon der Sciencefiction Literatur. Erw. Neuausgabe in einem Bd. München 1988. S. 112-120.
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(7)  Vgl. Drux 1988 (wie Anm. 5), S. XIIIff.
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(8)  In der Schlussstrophe bannt bekanntlich der heimkehrende alte Meister das Geschöpf und rettet in letzter Not mit dem Spruch: "In die Ecke, / Besen! Besen! / Seid's gewesen! / Denn als Geister / Ruft euch nur zu seinem Zwecke / Erst hervor der alte Meister."
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(9)  Die im Element des Wassers verkörperte Natur erscheint doppelgesichtig, im lockenden Bade als Wohltat und in den strömenden Fluten dann als grenzenlose Zerstörung. Die Bändigung der Wasserfluten ist eines der zentralen Denkbilder für die zivilisatorische Leistung überhaupt. Goethe hat den Motivbereich verschiedentlich gestaltet, am eindrücklichsten wohl mit dem Staudammprojekt im zweiten Faust. Vgl. dazu Hartmut Böhme: Eros und Tod im Wasser - "Bändigen und Entlassen der Elemente". Das Wasser bei Goethe. In: Ders. (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers. Frankfurt am Main 1988 (suhrkamp taschenbuch, Bd. 1486), S. 208-233, zu Faust S. 217ff.
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(10)  Vgl. Küppers 1993 (wie Anm. 2), Hans-Jörg Rheineberger: Von der Zelle zum Gen. Repräsentationen der Molekularbiologie. In: Ders. / Bettina Wahrig-Schmidt / Michael Hagner (Hg.): *Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur. *Berlin 1997, S. 265-279.
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(11)  Rheineberger 1997 (wie Anm. 10), S. 277f.
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(12)  Küppers 1993 (wie Anm. 2), S. 275.
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(13)  Rheineberger 1997 (wie Anm. 10), S. 269.
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(14)  Dass der Umgang mit der Schrift des Lebens öfters andere als die erwarteten Folgen zeitigt, sollte neben Gentechnikern indes auch Philosophen wie Peter Sloterdijk interessieren. Vgl. Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus - die Elmauer Rede. In: Die Zeit Nr. 38, 16. 9. 1999, S. 15, S. 18-21.
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  Biografie







Michael Andermatt (geb. 1956 in Luzern) hat 1986 mit einer Arbeit über Marlitt, Fontane und Kafka promoviert. Seit seiner Habilitation (1995) mit einer Arbeit über Achim von Arnim ist er Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literatur von Romantik und Realismus, die Schweizer Literatur des 19. Jahrhunderts, Motivanalyse und Kulturwissenschaft, und er hat zu Achim von Arnim, Gotthelf, C.F. Meyer, Fontane u.a. publiziert.

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