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Gaudeamus igitur Oliver Suter Michael *Böhler wird sechzig. Ein Satz, der zunächst sehr abstrakt wirkt. Ein Satz, der nach Erklärung und Lobreden verlangt. Ein Satz aber vor allem, dessen Bedeutung wesentlich davon abhängt, in welchen Bezugsrahmen die vier Worte, die ihn bilden, gestellt werden. Die nachfolgenden Betrachtungen versuchen, sich dem Satz auf sehr bruchstückhafte, schlaglichtartige Weise zu nähern. Zwanzig wird man in der Regel gerne, sechzig eher nicht. Nennen wir's beim Namen: ein solcher Geburtstag macht uns vor allem eines klar: Wir werden älter. Vivre, c'est mourir un peu. Nun, die Gewissheit, dass die "biologische Uhr" unerbittlich tickt, ist nicht neu, aber sie wird uns bei solchen Anlässen doch immer wieder von neuem bewusst die Sanduhr rieselt unbarmherzig! Man könnte darob verzweifeln, wüsste man nicht, dass es allen so geht, und ahnte man nicht immer deutlicher, dass gerade in der Endlichkeit des Daseins sein grösster Reiz liegt, dass letztlich alle schöpferische Kraft des Lebens aus dem Umstand seiner Begrenztheit erwächst. Dieser zunächst etwas schwach erscheinende Trost lässt den Verdacht aufkommen, er täusche nur darüber hinweg, dass wir einmal nicht mehr sind und dies mit zunehmendem Alter immer rascher, dass wir also an einem solchen Geburtstag bloss kurz durchatmen, so als wollten wir dem unaufhaltsamen Dahinfliessen der Zeit wenigstens für einen Moment Einhalt gebieten, uns eine Generalpause gönnen, eine Zäsur vornehmen, wie auch immer. Wir werden still, stiller als sonst, nachdenklich vielleicht und halten Rückschau. Wir lassen das Leben Revue passieren und entdecken plötzlich, dass das gemeinsame Schicksal der Endlichkeit kein schwacher Trost ist sondern eine unglaubliche Chance. Doch alles der Reihe nach. "Habe nun ach..." könnte sich der Sechzigjährige mit *Goethe sagen und damit die Fragen stellen: was war, was ist, was wird? Bezeichnend an *Fausts ersten drei Worten ist das vielsagende "Ach". Es verweist, einem Seufzer gleich, auf das Jetzt, und damit zwangsläufig auf das Vorher und Nachher. Ganz anders als bei Alkmenes "Ach" in Kleists Amphitrion spiegelt sich darin die oben beschriebene Zäsur, gleichsam alle offenen Fragen mit einschliessend. Des Pudels Kern entdecken wir nie, doch die Frage danach hält uns auf Trab, sowohl in der Literaturwissenschaft wie im "richtigen" Leben. Denn nicht nur in der Literatur suchen wir stets von neuem nach Interpretationsansätzen, nach Antworten auf Fragen, die wieder zu neuen Fragen führen, sondern wir tun es zunächst vor allem bei uns selber, will heissen: im eigenen Leben, jener Zeitspanne also, in der wir uns alle auf unterschiedliche Weise um das fortwährende Aufspüren von Sinnzusammenhängen bemühen, wobei sich dabei die Perspektiven oft stark verändern. Sie verändern sich nicht zuletzt aufgrund des Wissens um die Bedingtheit unseres Daseins. Eine Bedingtheit, aus der letztlich auch eine gewisse Unbedingtheit resultiert, eine Unbedingtheit des Fragens. Und so ist man versucht zu sagen: Spätestens mit sechzig stellt sich die Sinnfrage neu. Man blickt zurück, hat im Falle *Michael Böhlers zweifellos viel geleistet, und dies nicht nur vor dem Hintergrund gesellschaftlich relevanter Massstäbe. Man ist ebenfalls unbestritten älter geworden, aber auch reicher: reicher an Wissen (bestimmt), an Erfahrung (gewiss), an Weisheit (vielleicht), an Gelassenheit (hoffentlich), sicher aber reicher an Fragen und wohl auch an Einsichten darüber, dass eine der grössten Herausforderungen unseres Daseins darin besteht, mit offenen Fragen leben zu lernen, nicht aber darin, aufgrund ihrer möglichen Offenheit die Fragen nicht zu stellen. Hier könnte sich zwar das dumpfe Gefühl eines vermeintlichen Selbstbetrugs einschleichen, doch dieses Gefühl verflüchtigt sich rasch, wenn man realisiert, dass man im vollen Bewusstsein um die Möglichkeit einer Selbsttäuschung den Betrug eher verhindert. Diese Gefahr des Selbstbetrugs ist eine Falle, die hinter jeder Ecke lauert, auch oder gerade an einem Geburtstag. Michael Böhler wird sechzig. Wir wollen daher nichts schönreden, kein falsches Loblied anstimmen, keinen Zuckerguss präparieren, keine Orden verteilen, aber wir wagen hier doch die Aussage, dass Michael Böhler der Gefahr des Selbstbetrugs stets mit schonungsloser Offenheit begegnet und dadurch der Versuchung des Ausruhens auf trügerischen Lorbeeren in seinem Denken und Wirken gerade nicht erliegt. Und so wäre es durchaus möglich, dass er sich heute fragt: Was bin ich mir trotz allem schuldig geblieben? Was soll, was kann, was will ich noch? Diese Frage belebt, denn sie eröffnet dem älter Werdenden ganz unverhofft ein herrlich weites Feld an neuen Perspektiven. Und das bedeutet: Das fortschreitende Alter ist selbstverständlich bei akzeptabler körperlicher Verfassung und anhaltenden geistigen Kräften eine Gnade! Der aktuelle Jugendkult tendiert dazu, den Respekt vor dem Alter zu verlieren ein fataler Fehler. Denn gerade das Alter lässt vieles erst möglich werden. Es muss schliesslich nicht sein, dass wir zwangsläufig stiller werden, es muss nicht sein, dass wir uns zurückziehen und einschliessen. Der Distanzgewinn gegenüber herkömmlichen Denkformen und Erklärungsmustern hat ja gerade nichts mit Rückzug zu tun, jedenfalls nichts mit geistigem Rückzug. Ein solcher käme tatsächlich einem Erlahmen, Erliegen und Erlöschen gleich, er bedeutete das Begraben all unserer Möglichkeiten, der geistige Tod zu Lebzeiten. Das darf kein Mensch wollen, darin liegt kein Sinn und auch kein Segen. Michael Böhler ist sechzig geworden. Max Frisch hat einen Roman mit den aufbäumenden Worten begonnen: "Ich bin nicht Stiller!" Was James White von sich behauptet, kann in enigmatischer Erweiterung auch als distanzierende Aussage des Autors verstanden werden. Doch darum soll es hier nicht gehen. Wir wollen den Text anders lesen. "Ich bin nicht Stiller" kann mehr bedeuten als: "Ich bin nicht derjenige, für den ihr mich hält!" Es kann bedeuten: "Ich gebe mich nicht mit dem zufrieden, was ich darstelle, was ich erreicht habe." Das heisst: "Ich frage, ich suche weiter, allen äusseren Einflüssen, allen Versuchen der Komplexitätsreduktion zum Trotz. Ich lasse mich nicht schubladisieren, nicht in Schemen pressen, nicht zu etwas formen, was euch so passen könnte." Das Fortschreiten der Zeit, der Lebens-Zeit, sichtbar und fühlbar werdend an einem Geburtstag, erlaubt also im besten Falle so etwas wie Altersradikalität ein Privileg, wie mir scheint. Ein Privileg, das man sich zwar erkämpfen muss, denn dazu reicht das Älterwerden allein gewiss nicht, ein Privileg aber auch, das unglaublich befreit und befriedigt: Die Rücksichtnahme auf gängige, etablierte Normen weicht nämlich in diesem besten Falle immer stärker zurück vor der erwachenden Neugier, die Dinge wieder und wieder anders zu beleuchten, die Perspektiven nochmals zu erweitern, sich und andern zusätzliche Erklärungen abzuringen, und es siegt damit schliesslich die Lust, frei von bestehenden Konventionen und Antworten noch unbequemere Fragen zu stellen: "Ich bin es tut mir leid, wenn ich euch enttäuschen muss nicht stiller geworden, und ich hab' auch nicht vor, jemals stiller zu werden!" Michael Böhler ist sechzig und zum Glück kein bisschen stiller geworden. Deshalb möchte man ihm zurufen: Werden Sie nicht stiller, überraschen Sie uns immer wieder mit der Lust des Nachfragens, des Nachhakens, des Sich-nicht-zufrieden-gebens, bleiben Sie weiter so anregend, ansteckend, so erfrischend unangepasst, wecken Sie die Neugier in uns, fordern Sie uns heraus, begeistern Sie uns weiterhin für die Literatur, ja werden Sie dabei ruhig noch etwas radikaler, noch etwas leidenschaftlicher, als Sie es bisher schon waren. Michael Böhler soll sechzig geworden sein. Wir glauben es gern, wir gratulieren auch brav, doch es kümmert uns nicht. Wir freuen uns ganz einfach weiterhin auf die Begegnung mit dem wachen, erwartungsvollen, oft auch schelmischen Blick, sei es in einer *Vorlesung, sei es in einer gemütlichen Runde fern jedes akademischen Betriebs, wir* beobachten auch künftig aufmerksam und genüsslich, wie unter dem längst schlohweissen Haar (wie trügerisch sind doch die Zeichen des Alters) geistreiche Kommentare und Winkelzüge entstehen, und wir nehmen dankbar zur Kenntnis, dass mit Michael Böhler ein Intellektueller im besten Sinne des Wortes unter uns lebt und lehrt: unbestechlich, blitzgescheit, nie ohne *Witz, und vor allem mit Herz. Gaudeamus igitur! ... word doc download word document |
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