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Gleichsam als Urszene dieser Konstellation lässt sich Odysseus' Begegnung mit den Sirenen lesen. Mit ihrem betörenden Gesang suchen die Sirenen den Heimkehrer von seiner zielstrebigen Fahrt abzubringen. Sie suchen ihn zu einem Aufenthalt auf ihrer Insel zu bewegen, indem ihr Gesang ihm die Teilhabe an einem Wissen verspricht, das die Logik seiner Zeitordnung übersteige und ihn »vergnügt und weiser wie vormals« ziehen lasse. Innehalten, um der weiblichen Stimme zuzuhören, käme jedoch der Preisgabe seines Selbst gleich, denn von Kirke gewarnt, weiss Odysseus, dass er den Aufenthalt bei den Sirenen mit seinem Leben bezahlen müsste. Im Sirenenabenteuer konkretisieren sich auf diese Weise die Verlockungen und Gefahren einer weiblichen Stimme. Es handelt vom Wunsch nach einem Wissen jenseits der festgefügten Denkkategorien und Ordnungsstrukturen, und es hält im Hinweis auf den drohenden Selbstverlust des Mannes zugleich die Bedrohung des Eigenen durch die Hingabe an das Andere präsent.
Während die Odyssee den Wasserfrauenmythos im Hinblick auf die Gefährdung des männlichen Selbst gestaltet, inszeniert Hans Christian Andersen im Märchen von der Kleinen *Meerjungfrau den Mythos umgekehrt aus der Perspektive der Wasserfrau, die sich Zugang zur Menschenwelt verschaffen will. Erzählt wird nicht mehr von den Gefahren einer weiblichen Stimme, sondern vom Verlust dieser Stimme im Moment, da die Wasserfrau ihren Ort verlässt und sich zu den Menschen begibt. Anlass zu dieser Veränderung gibt die Liebe der kleinen Meerjungfrau zu einem Menschenprinzen. Da sich die Wasserfrau mit ihrem Fischleib auf der Erde nicht bewegen kann, lässt sie sich von der alten Meerhexe mit einem Zaubertrank zum begehrten weiblichen Körper verhelfen. Als Preis für den Zaubertrank muss sie der Hexe ihre Zunge und damit das Schönste opfern, was sie bisher besass: ihre Stimme, und das heisst auch ihren Gesang, mit dem sie nachts die Menschen bezauberte. Stimme ohne Körper in der Wasserwelt, wird sie zum Körper ohne Stimme in der Menschenwelt. In keiner Sphäre vollkommen, zuerst verführerischer Gesang, später stimmloser und eigentlich verstümmelter Körper, vollzieht die kleine Meerjungfrau im Wechsel von der Wasser- in die Menschenwelt den Wechsel vom Ort des Anderen in die herrschende Ordnung. Sie verliert dabei nicht nur, was sie als das Andere bisher begehrenswert machte, sondern erfährt in der Menschenwelt zugleich schmerzhaft ihre Nicht-Identität, wenn ihr jeder Schritt auf der Erde wie ein Messerstich durch den Körper fährt.


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Ausschnitt aus:
Stimme und Schrift. *Geschlechterdifferenz und *Autorschaft bei Gottfried Keller
Amrein Ursula





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