[  biografie ]   
 
Ein unbekanntes Kapitel aus Friedrich Glausers Roman "Wachtmeister Studer" resp. "Schlumpf Erwin Mord"
Peter von Matt

Vorbemerkung

Im Archiv des ehemaligen Artemis-Verlags befinden sich aus dem Nachlass des Verlegers Friedrich Witz verschiedene Glauseriana, von denen offenbar auch das Schweizerische Literaturarchiv in Bern bisher keine Kenntnis hatte. Besonders interessant ist der folgende Text, der ursprünglich für den ersten Studer-Roman gedacht gewesen sein muss. Studers Recherchen in Gerzenstein hätten im zweiten Drittel des Romans allem Anschein nach durch einen Sonderauftrag im Napfgebiet unterbrochen werden sollen. Worum es sich dabei handelte, geht aus dem Textfragment deutlich hervor. Es ist bis heute unklar, ob es der Redaktor und Verleger Witz allein war, der Glauser zur Eliminierung des Kapitels veranlasste, oder ob Witz seinerseits von höherer Warte unter Druck gesetzt wurde. Vermutlich hat Glauser den ganzen Roman in der ursprünglichen Form bei Rudolf Jakob Humm im Rabenhaus am Hechtplatz vorgelesen. Da Humm als kritischer Schriftsteller und Gastgeber von Emigranten mit Sicherheit überwacht wurde, dürften Informationen über die Passage durchgesickert sein. Witz, der als Redaktor der "Zürcher Illustrierten", wo der Roman von Juli bis Oktober 1936 erstmals erschien, auf das Wohlwollen der Zensurbehör-den angewiesen war, hat sich einem Wink aus Bern wohl kaum entziehen können.
Die Wiedergabe des Typoskripts, das nur wenige Korrekturen von Glausers Hand mit grünem Farbstift enthält, meist Satzzeichen wie etwa die von ihm gern gesetzten drei Pünktchen am Satzende, erfolgt in diplomatischer Abschrift.



"Das kostet Sie den Kragen, Studer!"

Der Polizeidirektor flüsterte vor Wut. Tonlos wiederholte er: "Den Kragen, Studer! - Den Kragen und den Kopf dazu!"

Studer fiel auf, dass der eigene Kragen dem Herrn Regierungsrat tief in den Hals schnitt. Es war ein roter, ge-blähter Hals, und der Kopf darüber war noch röter. Der Mann hatte Angst. Er war wütend aus nackter Angst. "Ich werde zwei Tritte runter fallen", dachte Studer, "und er zwei Stockwerke."

Plötzlich lächerte es den Wachtmeister. Er wusste, er würde nach Hause gehen und dem Hedy alles erzählen, und er würde vor Lachen nicht fertig erzählen können, obwohl das Hedy schon bald zu weinen anfangen würde - zu weinen wegen der schönen Pension, auf die sie sich so gefreut hatte...

"Diesmal werden Sie nicht einfach degradiert, Studer", flüsterte der Polizeidirektor, "diesmal" - und plötzlich fand er seine Stimme wieder und brüllte: "diesmal wandern Sie ins Loch!"

Damit hat er leider recht, dachte Studer und biss auf die Zähne, denn es lächerte ihn immer noch ein wenig. Schon mancher Tschugger war im Kanton Bern hinter Gitter geraten, aber noch keiner aus diesem Grund...

Doch er musste sachlich werden, er musste erklären.

"Der Nebel, Herr Regierungsrat, ich habe die Herren pflicht-gemäss gewarnt vor dem plötzlichen Nebel im Napfgebiet. Ein Gewitter mit Kälteeinbruch, und innert einer halben Stunde ist alles im Nebel. Der Nebel, habe ich gesagt, kümmert sich auch nicht um einen Bundesratsausflug. Der Nebel kann sieben Bundesräte nicht von sieben Hagpfosten unterscheiden."

"Frechheit", stiess der Polizeidirektor hervor. Er flüsterte jetzt wieder.

"Genau das sagte einer der Herren auch", meinte Studer, "und die welsche Dame sagte es sogar auf französisch... Der Berneroberländer aber klopfte mir auf die Schulter. Ich solle mich beruhigen. Er habe mehr Viertausender bestiegen als alle Wachtmeister der Schweiz zusammen. Im Nebel sehe er noch besser als an der Sonne. - - Ja, und dann haben sie mir befohlen, im 'Bären' zu bleiben oder zurückzufahren nach Gerzenstein zu meinem Fall Schlumpf. Sie brauchten keinen Bewacher, erklärten sie. Sie wollten unter sich sein, einmal im Jahr ganz unter sich als gute Kameraden und ohne Polizisten vorn und hinten. Und da sind sie halt unter sich geblieben und sind im Gänsemarsch die Mattlisegg hoch-gestiegen, und zwei Stunden später fiel der Nebel ein, und jetzt sind sie verschwunden. Und der Studer Jakob kommt ins Loch, weil er persönlich den ganzen Bundesrat verloren hat, alle sieben, in Windjacken und mit Schottenmützen, und der Berneroberländer hatte noch einen Kompass umgehängt an ei-ner roten Kordel..."

"Wieviele Suchmannschaften sind unterwegs?"

"Fünf. Alles erfahrene Leute."

"Werden sie schweigen? Sie kennen unsere Medien, Studer. Dieses Radiopack von Beromünster, diese Dreckskerle vom‚Volksrecht‘, diese Lumpenhunde von der‚Tat‘ -"

"Unsere Leute können schweigen, und sie werden schweigen. Aber leider haben sie nichts gefunden. Das Gelände ist harmlos bei schönem Wetter. Und heute scheint die Sonne. In zwei Stunden kann man dort jeden entlaufenen Pudel aufstöbern... - Also..."

Studer schwieg. Er hockte da, vornübergebeugt, die Beine etwas auseinandergestellt, die Vorderarme darauf abgestützt.

"Also was?"

"Also können sie nicht zu Fuss weitergegangen sein. Da muss irgendwo ein Fahrzeug..."

"Sind Sie wahnsinnig, Studer? Sie denken an eine Entführung? Der ganze Bundesrat? Und in Bergschuhen?"
"Ein Fahrzeug..."

Plötzlich fuhr Studer auf. Seine Stimme wurde hart, duldete keinen Widerspruch. "Geben Sie mir das Telefon", fuhr er seinen höchsten Vorgesetzten an. "Und jetzt die Nummer von St. Urban, Klinik St. Urban... nein, das ist nicht im Kanton Bern, Herr Re-gierungsrat, das ist im Luzernischen... nicht weit vom Napf..."

Der Polizeidirektor gehorchte wie ein Bub. Er suchte stumm nach der Nummer und sprach sie mit brüchiger Stimme vor, während der Wachtmeister die Wählscheibe drehte. Bleich, mit offenem Mund verfolgte der Herr Regierungsrat das Gespräch.

"Ja, hier Studer, Kantonspolizei Bern. Eine Frage, Herr Anstaltssdirektor. Hat vielleicht gestern jemand eine Gruppe von auffälligen Personen bei Ihnen eingeliefert, in Windjacken, Leute, die seltame Dinge behaupteten? Grössenphantasien, Identitätsverwirrung - sie kennen die Sorte... –- Aha, aha – soso – jaja... Ein Holzhändler, sagen Sie, mit einem Lieferwagen... Im Wald bei Luthernbad, an der Enziwigger... Nein, die Gegend kenn ich nicht... Reizvoll, aber einsam - kann ich mir vorstellen... Angst? Warum hatte der Holzhändler Angst?... Ach so, ja sicher, da kann es einem schon unheimlich werden, wenn man so ganz allein mit sieben Typen dahinfährt und die singen zusammen die Landeshymne... Ein kluger Mann, gleich bis nach St.Urban durchzufahren... Wie, ein Trick? Was war mit dem Trick? ... Aha, verstehe, nur mit einem Trick waren sie zu beruhigen... Ja, Ihre Pfleger haben Erfahrung, Gold wert, gratuliere der Anstalt, gratuliere dem Direktor. Ein bisschen was in den Tee, und dann jedem eine Spritze in die... Perfekt! -- Jetzt schlafen sie also. - Alle? Auch der mit dem Kompass? -- Nun hören Sie gut zu, Herr Direktor. Die Gruppe ist den Behörden in Bern bekannt. Es muss alles geheim bleiben, wegen gewisser Verbindungen mit einflussreichen Familien, Sie verste-hen... Nein, nein, alle sieben sind völlig harmlos... Nur diese eine fixe Idee, sonst ganz harmlos ... Genau, es gibt ja auch solche, die meinen, sie seien der Napoleon oder der Präsident von Amerika..."

Studer lachte herzhaft, und man hörte den Anstaltsdirektor in der Ferne scheppernd mitlachen.

"Gewiss, Herr Direktor, gutmütige Leute in der Regel, wenn man ihre fixe Idee nicht anzweifelt... Ich nehme jetzt die Sache an die Hand. In zwei Stunden bin ich bei Ihnen ... Ja, ich hole die Leute persönlich ab, mit zwei Dienstwagen... Nein, das ist nicht unter meiner Würde. So was gehört zu meinem Beruf... Nein, zu baden brauchen Sie sie nicht, lassen Sie sie so, wie sie sind... jaja ... gleich in den Bergschuhen. Wir duschen sie dann hier in Bern gründlich ab und tschoopen sie wieder anständig an."




  Biografie







Peter von Matt, geboren 1937, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der *Universität Zürich und seit 21 Jahren Fachkollege von Michael Böhler am Deutschen Seminar. Sein Beitrag versteht sich als helvetische Miszelle zu *Michael Böhlers Interessenkreis um verbotene resp. unterdrückte Literatur....